Der Klang des Todes - Bartosch Edström, C: Klang des Todes - Furioso
allerdings etwas schmaler als Caroline, und hatten den gleichen Gang. Raoul folgte ihnen mit dem Blick, und sein Magen verkrampfte sich, als er sah, wie sie sich unterhielten. Einmal warfen sie beide einen Blick zurück auf die Treppe und gingen dann weiter. Raoul spitzte die Ohren und versuchte zu hören, was sie sagten, aber der Abstand war zu groß. Er merkte nicht, dass Louise ihn betrachtete.
»Ich sehe, dass du bekümmert bist, und ich weiß, was du denkst. Wir können genauso gut auch darüber sprechen«, sagte sie leise.
Ihre Worte wirkten wie eine kalte Dusche, obwohl er wusste, dass er auf sie hätte vorbereitet sein sollen. Es war, als wären seine Gefühle mit ihm durchgegangen. Ganz ohne Vorwarnung hatte er alle Moral und Loyalität vergessen und sich von seiner Verliebtheit mitreißen lassen. War es Verliebtheit? Konnte er sich wirklich noch einmal so über beide Ohren verlieben, obwohl er sich den Fünfzig näherte? Noch dazu in eine Frau, die halb so alt war wie er? Eine Frau? War sie eine Frau, oder war sie noch fast ein Kind, wo verlief die Grenze? Sie hatte immer noch kindlich runde Wangen und zwei kleine Pickel links auf der Stirn, aber ihr Körper war üppig wie der einer griechischen Göttin. Ganz dreist hatte er sie verführt, obwohl er wusste, dass sie Louise gehörte. Bildete er sich etwa ein, dass die Liebe zwischen Frauen nicht so stark war wie die zwischen Mann und Frau und deswegen nicht dieselbe Berechtigung besaß? Louise. Von allen Menschen hatte er ausgerechnet Louise betrogen. Wie hatte er sich nur seiner engsten Freundin gegenüber so schäbig benehmen können? Das war vollkommen unverzeihlich, so niederträchtig, dass er nicht einmal an seine Schuld denken wollte. Aber wie hätte er es auch unterlassen können? Diese liebreizende Erscheinung hatte ihn beim Abendessen mit ihrem Blick um den Verstand gebracht. Er hatte eingesehen, dass er zum ersten Mal in seinem Leben die große Liebe erlebte. Es war ganz anders gewesen als alles, was er bislang erlebt hatte. Ganz unerwartet hatte er den Halt verloren und war in ein anderes Dasein geschwebt, in einen privaten Raum, in dem nur sie sich befand. Eine Erinnerung erwachte irgendwo in seinem Hinterkopf, etwas, was mit ihr zu tun hatte, aber er konnte es nicht einordnen. Er wusste nur, dass er sie haben musste. Sie war die eine, jetzt war sie in seinem Herzen, und er hatte nicht vor, sie jemals wieder loszulassen. Folgsam hatte sie ihn auf die nördliche Landzunge begleitet, als er sie darum gebeten hatte. Er hatte sie unter dem Sternenhimmel küssen dürfen. Dann waren sie ins Atelier gegangen. Dort war es eiskalt gewesen, aber er hatte sofort ein großes Feuer im Ofen angezündet und dann die Decken auf den Fußboden davor gelegt. Aber es war mehr als Fügsamkeit gewesen, ihre Sehnsucht hatte der seinen entsprochen. Heute hatte sie zugegeben, dass sie mit ihm zusammen nicht Brahms spielen könne. Wie entzückend! So rührend unschuldig. Noch nie hatte er es so genossen, dieses Quartett zu spielen, wie dieses Mal, während sie mit ihren Gefühlen gekämpft und ihm ein zitterndes Lächeln geschenkt hatte. So wie sein Herz aufblühte und blutete, während er sie betrachtete, quälte sie sich auf die gleiche Weise. Sie würde ihre Seele und ihren Körper ihrer gemeinsamen Leidenschaft überlassen. Sie war übermächtig. Das wusste er. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Er stand am Scheideweg und konnte sich nur eine mögliche Zukunft vorstellen. Mit ihr. Mit Caroline. Seine Liebe hieß Caroline. Er wagte es kaum, auch nur ihren Namen zu denken, weil er fürchtete, er könne ihm ins Gesicht geschrieben stehen.
»W enn man Dinge plötzlich von außen sieht, erscheinen sie einem ganz anders. Man bekommt eine neue Perspektive«, meinte Louise bekümmert.
Sie wusste Bescheid. Panik breitete sich in ihm aus. Sie hatten mit Caroline zwischen sich dagesessen und sich ganz entspannt über Fragen des Berufs unterhalten, während Louise die ganze Zeit gewusst hatte, was Sache war. Einige wenige Male hatte er sie so erlebt, kaltblütig berechnend, und es war ihm immer unangenehm gewesen. Jetzt graute ihm davor. Sie besaß Nerven aus Stahl, wenn der Ernst der Lage es erforderte.
Raoul fuhr sich mit der Hand durchs Haar, um sein Gesicht mit dem Unterarm zu verbergen. »Louise, ich verstehe, dass du wahnsinnig wütend auf mich bist. Was für ein Recht hatte ich? Aber ich war selbst nicht darauf vorbereitet.«
Louise schaute zu Boden und
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