Der Klang des Verderbens
hatten, waren sie Waisen gewesen.
Ronnie konnte einfach nicht anders, sie ging zu dem Bett, das ihr am nächsten stand – das des Jungen –, und schaute hinein. Sie konnte dieses Kind innerlich vor sich sehen, die kleinen Finger, die sich um die Decke krümmten, den Schlafanzug mit den Feuerwehrautos.
»Durch dieses Fenster ist er eingestiegen«, sagte Mitchell und nickte zur Zimmerecke hin. »Das Schwein hat einfach einen Kreis aus der Scheibe geschnitten, durchgefasst und aufgemacht.«
Wie im Elternschlafzimmer entdeckten sie auch hier keinen Unterschied zu den OEP -Downloads des Täters. Nein, sie hatten sich nicht jedes Detail eingeprägt, aber hier stach ihnen eindeutig nichts ins Auge.
Einer von ihnen würde sich in die Maschine stellen und sich beide Videos noch einmal antun müssen, in Farbe und mit allen herzzerreißenden Einzelheiten. Sykes hatte sich das letzte Mal geopfert, also war sie jetzt dran. Glückwunsch, Sloan.
Nachdem sie schließlich alles gesehen hatten, was sie hatten sehen wollen, folgten sie Mitchell hinaus und verließen die Vorstadt. Sie verabschiedeten sich vom Detective und fuhren zur Northwestern University, um mit einigen ehemaligen Kollegen des Professors zu sprechen. Ausnahmslos alle äußerten sich sehr respektvoll über ihn, oft auch mit Zuneigung, aber brauchbare Informationen bekamen sie nicht.
Abends kehrten sie ins Hotel zurück und fanden, dass sie alles beisammenhatten, was hier zu holen war, und dass es an der Zeit war, nach Washington zurückzukehren. Den ganzen Tag über hatten sie nichts von den Leuten im Labor gehört. Ronnie hatte unablässig bei Dr. Cavanaugh nachgehakt, in der Hoffnung, dass sie jemanden mit einem gewaltsam getöteten Angehörigen und einem Golden Retriever gefunden hätte, doch bisher war die Wissenschaftlerin auf nichts Brauchbares gestoßen. Die Daten von tausendneunhundert Menschen waren allerdings auch eine ziemliche Masse. Es war wohl zu viel verlangt, dass sofort etwas dabei heraussprang.
Doch der Ausflug nach Chicago war alles andere als vertane Zeit gewesen. Sie hatten Informationen von Mrs Weinberg erhalten, die nahelegten, dass ihr Täter sich als Techniker ausgegeben hatte, um das Haus auszuspionieren. Noch eine Variable, die sie Cavanaughs Suche hinzufügen konnten. Doch abgesehen davon waren sie hier fertig.
Zeit für die Heimreise.
11
Der Flug von Chicago zurück nach Washington am Sonntagmorgen dauerte nicht besonders lang, aber da Ronnie es nicht aushielt, tatenlos herumzusitzen, ging sie stattdessen die Tatortberichte und Beweisfotos durch, die Detective Mitchell ihnen mitgegeben hatte. Sie saß auf einem Mittelplatz zwischen Sykes und einer jungen Frau, die sich unablässig an den Armlehnen festkrallte – links
und
rechts –, deshalb hielt sie den Bildschirm sorgsam vor sich. Es hatte keinen Sinn, eine ohnehin schon nervöse Dame in Panik zu versetzen, indem sie in ihr den Verdacht weckte, neben einer Wahnsinnigen zu sitzen, die sich intensiv die Bilder von ihrem letzten Mord anschaute.
Sykes, der am Gang saß, las über ihre Schulter mit und nickte hin und wieder, wenn sie ihn mit einem Blick fragte, ob sie weiterblättern konnte.
Als die Flugbegleiterin bei ihnen stehen blieb und ihnen etwas zu trinken verkaufen wollte – nicht einmal ein Wasser bekamen sie bei diesem Flug gratis –, wandte Sykes sich zu ihr um, und Ronnie rief die Tatortfotos auf. Sie übersprang die blutigeren – nicht nur aus Rücksicht auf ihre Reisegefährten, sondern auch auf ihren eigenen Magen, der wegen des turbulenten Fluges ohnehin schon rebellierte.
Irgendetwas ließ sie beim Bild von der Kissenhülle mit dieser hoffnungsfrohen Stickerei innehalten. Sie hatte seit gestern nicht mehr viel darüber nachgedacht, doch hin und wieder hatte sich diese nagende Verwirrung wieder eingestellt, wie bei einem besonders schwierigen Rätsel, oder wenn man nach einem bestimmten Lied suchte, wovon einem die Melodie durch den Kopf ging und der Text auf der Zunge lag.
Sie betrachtete die aufgerissenen Nähte, die wenigen Rüschen, die nach dem Wutausbruch noch daran baumelten, den hellrosa Faden, mit dem die Botschaft auf den lilafarbenen Stoff gestickt worden war.
»Moment mal«, murmelte sie, als ihr plötzlich etwas aufging – wahrscheinlich weil sie nicht mehr so angestrengt darüber nachdachte, sondern stattdessen ihre Gedanken umherwandern ließ.
»Was denn?«, fragte Jeremy und wandte sich ihr zu.
»Es ist tatsächlich lila«, stellte sie
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