Der Klang des Verderbens
er das tun sollte. Womöglich wollte er uns einfach nur auf die Stickerei aufmerksam machen – wir kennen ja seine Macke mit dem
Frieden
.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach sie. »Das hat er schon geschafft, indem er so lange draufgestarrt hat. Ich habe das Gefühl, da steckt was anderes dahinter.«
Etwas Wichtiges, das sie nicht durchschauten.
Sie ging noch einmal die restlichen Bilder vom Tatort von vorne bis hinten durch. Vielleicht gab es noch mehr Unterschiede, die ihnen nicht aufgefallen waren.
Das Kinderzimmer sah gleich aus. Der Teppich. Das Parkett. Die Wände, die Babys.
Beim Anblick des kleinen Jungen hielt sie inne. Noch etwas machte sie stutzig.
»Was ist?«
»Sind Feuerwehrautos normalerweise nicht rot?« Sie deutete mit dem Kinn auf den Strampelanzug.
»Klar.« Er schmunzelte. »Und Panther sind normalerweise schwarz, nicht pink. Aber als ich klein war, gab es da so einen.«
Ja, natürlich konnte Kinderkleidung in genau den Farben hergestellt werden, wie es den Firmen gerade einfiel. Aber Feuerwehrautos waren doch schon fast Kult bei kleinen Jungs. Warum sollte man ihnen auf einem Schlafanzug eine andere Farbe verpassen?
Ihr klopfte das Herz höher, als ihr plötzlich eine seltsame Möglichkeit in den Sinn kam. Ohne zweimal darüber nachzudenken, spulte sie zu der Szene im Elternschlafzimmer – dem Tatort – zurück, trat in die Perspektive des Mörders und sah durch seine Augen auf Sarah Needham hinunter, die blind und blutend auf ihrem Kissen lag, mit einem schockierten Gesichtsausdruck; ein schwarzes Loch verunstaltete das ansonsten hübsche Gesicht. Dann minimierte Ronnie das Fenster und öffnete eins der Tatortbilder von derselben Frau, in derselben Position, auf demselben Kissen.
»Sykes«, flüsterte sie mit trockenem Mund und pochendem Herzen, »was siehst du hier?«
Er betrachtete das farbige Hochglanzfoto, das Detective Mitchell ihnen gegeben hatte. Leise erwiderte er: »Eine Frau, die in ihrem eigenen Blut liegt.«
»Genau. In Blut. Rotem Blut.«
Rotes Blut auf einem hellen Kopfkissenbezug.
»Das ist Blut normalerweise immer.«
»Außer, wenn nicht.« Sie öffnete noch einmal das Videofenster. »Jetzt schau mal genau hin.«
Er folgte ihrer Aufforderung. Und erstarrte.
»Ach, du grüne Neune.«
Das Polizeibild zeigte die ganze widerliche Realität. Ein Kopf auf einem rot getränkten Kissen.
Das OEP -Gerät ihres Täters interpretierte diese Realität anders. Es zeigte ein
schlammgrünes
Kopfkissen.
»Sie ist aufs Kissen zurückgefallen und hat es mit ihrem Blut rot gefärbt. Aber er hat Grün gesehen«, folgerte Jeremy und untermauerte, was sie sich bereits überlegt hatte.
Es traf sie wie ein Schlag. »Er ist farbenblind.«
Sykes nickte. »Du hast wahrscheinlich recht. Wenn er sich nicht eine Heidenarbeit gemacht hat, um uns zu verwirren, dann sieht es genau danach aus.«
Ronnie verband sich rasch mit dem Drahtlosnetzwerk des Flugzeugs, rief eine Suchmaschine auf und gab ein paar Begriffe ein. Sie öffnete das erste Suchergebnis und las laut vor: »Es gibt verschiedene Arten von Farbenblindheit; ihre mildeste Variante stellt die Deuteranopie dar. Bei dieser Sehstörung werden die meisten Nuancen von Rot und Rosa nicht erkannt und stattdessen in schmutziges Gelbgrün bis Grün verwandelt.«
Sie kannte ein paar Leute, die farbenblind waren. Ein Freund ihres Vaters hatte immer Witze darüber gerissen, dass er eine Ausrede für die Bullen hätte, wenn sie ihn dabei erwischten, wie er über eine rote Ampel fuhr. Er nahm Rot als Grün wahr.
Sykes las weiter. »Ein selten erwähnter Nebeneffekt der Rot-Grün-Sehschwäche betrifft die Farbe Lila. Ein Mensch mit Deuteranopie sieht den roten Anteil der Rot-Blau-Schattierung als Grün, wodurch sich Lila in eine Schattierung von Blau verwandelt.«
Rot wurde zu Grün. Wie das Blut. Wie die Feuerwehrautos.
Lila wurde zu Blau. Wie das Kissen.
Ihr Täter war tatsächlich farbenblind.
Ronnie war eingebläut worden, dass das OEP -Gerät buchstäblich die Augen der Testperson als Kameralinse verwendete. Doch was das in letzter Konsequenz bedeutete, war ihr gar nicht klar gewesen. Jeder Mangel an der Linse würde sich in der Aufnahme niederschlagen. Deswegen hatte Dr. Tate Testpersonen unter fünfzig Jahren ausgewählt, deren Sehstärke sich durchs Alter noch nicht zu sehr verschlechtert hatte. Und deswegen riskierte jeder, der das Gerät entfernen ließ, Erblindung – weil die Linse beschädigt werden konnte.
»Darauf
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