Der Klang des Verderbens
waren. Das Weiße Haus war von einer aschigen Wolke verdeckt worden. Schüsse von überallher. Verwirrung, die Luft von Sirenengeheul und dem beißenden Geruch von Qualm erfüllt.
Es hatte alle Sinne überwältigt. Nirgends hatte man hinschauen können, es hatte keinen ruhigen Augenblick gegeben; jeder Atemzug hatte in der Lunge gebrannt und diesen Tag ins Gedächtnis gesengt.
Die Leute auf der Straße hatten geschrien und geweint, blutüberströmte Opfer waren aus jedem öffentlichen Gebäude getaumelt. Und noch viel mehr hatten nicht einmal das geschafft – nicht eine Seele war aus all den Orten entkommen, die an einem schönen Herbsttag wie diesem von Touristen überfüllt waren. Ganze Schulklassen auf Wandertag im Smithsonian – Schüler, die sich um die Spirit of St. Louis im National Museum for Air and Space gedrängt oder mit großen Augen den Hope-Diamanten im National Museum of Natural History bestaunt hatten. Ausländische Besucher, die sich mit ihren Übersetzern durch das Lincoln Memorial hatten führen lassen. Angehörige, die mit den Fingern Namen auf der nackten, überwältigenden schwarzen Mauer, die an die Opfer des Vietnamkrieges erinnerte, nachgefahren waren.
Sie alle waren ausgelöscht. Einfach fort.
Genau wie der Präsident ihres Landes – zerfetzt, zusammen mit seinem halben Kabinett.
Sie waren einfach vom Erdboden getilgt und hinterließen die Stadt, in der sie gelebt hatten, gebrochen, blutbesudelt und zertrümmert.
Es war das reinste Chaos gewesen, der nackte Wahnsinn. Stundenlang konnte man sich dem nirgends entziehen, diesen unvorstellbar grauenhaften Szenen – von einem Kinderarm, der auf der Statue von Lafayette lag, bis hin zum Wrack eines Flugzeugs, das vom Himmel geholt worden war, als es ungefähr eine Minute vor der ersten Bombenexplosion vom Ronald Reagan National Airport über die Stadt hinweg emporgestiegen war.
Entsetzen, Schock, Angst, Sorge um ihre Familie – von der sie noch nicht das Geringste gehört hatte –, all das hatte Ronnie seelisch zermürbt und beinahe zugrunde gerichtet.
Sie und Daniels hatten einander in den Armen gelegen und in allumfassender Trauer geschluchzt, und hatten dann einfach instinktiv getan, was Menschen taten, wenn sie sich in Erinnerung rufen mussten, dass sie nicht völlig allein waren.
Es war ein einziges Mal. Es hatte sich nie wiederholt, war kaum je zur Sprache gekommen, ob es Daniels nun gefiel oder nicht.
Es gefiel ihm nicht. Das wusste sie. Doch das waren ihre Bedingungen, um seine Partnerin zu bleiben.
Sie bereute es, natürlich tat sie das. Doch wenn sie zurückblickte, auf ihre damaligen Gefühle und was sie in diesem Augenblick am dringendsten gebraucht hatte, konnte sie nicht behaupten, dass sie sich heute anders verhalten würde.
»Ich verstehe«, murmelte Jeremy, als sie ihre Erklärung beendet und versucht hatte, ihm das Ganze begreiflich zu machen. Mehr sagte er nicht.
Ronnie konnte ihn einen Moment lang nur verwirrt anstarren. War das alles, was er dazu zu sagen hatte? Sie schwiegen eine Weile. Dann griff er nach ihrer Hand, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, und drückte sanft zu. Ronnie starrte auf ihre verschlungenen Hände und wusste nicht genau, was sie sagen sollte. Sie hatte schon seit, nun ja, Ewigkeiten nicht mehr Händchen gehalten.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Es tut mir schrecklich leid, was du an diesem Tag und allen nachfolgenden hast durchmachen müssen.«
»Danke.«
Er war noch nicht fertig. »Ich weiß, dass dich das zu der Frau gemacht hat, die du bist. Ich weiß, dass dich das zäh gemacht hat, und ich weiß, dass du damit fertigwerden wirst, weil du eben einfach nicht unterzukriegen bist. Aber Daniels … ich bin mir nicht sicher, ob er so stark ist wie du. Er kommt darüber vielleicht nie hinweg, Veronica. Der arme Kerl.«
Sie nickte langsam, denn sie wusste, was er meinte. Eines Tages konnten die Gefühle ihres Partners für sie – seine Unfähigkeit, zu vergessen, was passiert war, und anzuerkennen, dass es für immer der Vergangenheit angehören würde – ihr Verderben werden.
»Danke, dass du es mir erzählt hast.«
»Du hast mir keine große Wahl gelassen.«
»Deswegen hast du das hier immer irgendwann abgeblockt, oder?«
»Das hier?«
»Das mit dir und mir. Mit uns. Du hast ein schlechtes Gewissen wegen dem, was in der Nacht, in der Daniels überfallen wurde, in Richmond zwischen uns passiert ist. Deswegen erlaubst du dir so selten, deinem Verlangen nach
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