Der Klang des Verderbens
einzusortieren, und Sykes hatte schon eine Lösung bei der Hand.
»Genau.«
Das klang tatsächlich sinnvoll. Wie weit würde jemand gehen, dem ein geliebter Mensch durch Gewalt genommen worden war? Würde er selbst Gewalt anwenden? Ein kopfgesteuerter Mensch vielleicht nicht. Aber wenn ihr Täter ohnehin schon eine Schraube locker hatte, dann war er durch ein tragisches Ereignis vielleicht vollends übergeschnappt.
So musste es nicht notwendigerweise gewesen sein, aber immerhin hatten sie jetzt eine Theorie.
»Wir sollten Dr. Cavanaugh wohl bitten, zu überprüfen, wer von diesen tausendneunhundert Männern Verwandte hat, die innerhalb der letzten Jahre ermordet wurden«, sagte sie und beugte sich bereits über ihr Tablet, um der Wissenschaftlerin eine Nachricht zu schreiben.
Vielleicht machten sie endlich richtige Fortschritte. Anhand der Zeitangaben, der äußeren Beschreibung, des Hundehaars und dieser durchaus logischen Schlussfolgerung fanden sie eventuell bald heraus, wer dieses verabscheuungswürdige Schwein war. Und natürlich – wie er heute wieder betont hatte –, wer sein nächstes Opfer sein würde.
Vorausgesetzt, dass sein nächstes Opfer nicht bereits seit zwei Wochen tot war.
10
Am späten Freitagabend landeten sie in Chicago.
Dr. Tates Mitarbeiter hatten wieder einmal die Reisevorbereitungen für sie getroffen. Sie hatten nicht nur ihr Flugziel von Washington Dulles zum O’Hare International Airport in Chicago umgebucht, sondern auch den Kontakt zu den Detectives hergestellt, die am Mord an Needham arbeiteten. Durch die Zeitverschiebung verloren sie den Großteil des Arbeitstages.
Leider gab es keine Neuigkeiten von Dr. Cavanaugh oder ihrem Team. Ronnie hatte während des Flugs ständig ihre Mails überprüft, aber die Frau konnte bisher mit nichts aufwarten. Sie wollte ja nach einem Probanden mit einem Golden Retriever und kürzlich gewaltsam verstorbenen Verwandten suchen, doch bisher – kein Sterbenswörtchen.
Sie fuhren in die Stadt und checkten im Hotel ein – wieder zwei Zimmer, die diesmal allerdings miteinander verbunden waren –, und beschlossen dann, in das Wohnviertel zu fahren, wo das Verbrechen stattgefunden hatte. Ronnie wollte sich das Haus bei Mondlicht ansehen, genau wie ihr Mörder in jener Nacht, in der er diese armen Leute erschossen hatte.
»Kein Zweifel«, murmelte sie, als sie das Gebäude vor sich mit dem im Video verglich; allerdings hatte sie auch nichts anderes erwartet.
Das Haus lag still und dunkel, alle Lichter waren aus. Aber davor wurde die Nacht von mehreren Hundert Kerzen – elektrischen natürlich, denn alles andere wäre im Wind längst erloschen – sanft erhellt.
Dr. Needhams Einfahrt war offensichtlich von trauernden Mitmenschen in eine Art Gedenkstätte verwandelt worden. In der Nähe der Garage spannte sich Absperrband quer über das Tor, aber bis dorthin war der Boden mit Blumen, Stofftieren, Briefen, Karten, Pappschildern und diesen kleinen Kerzen überhäuft.
Sie parkten an der Straße, stiegen aus und gingen zur Einfahrt, von wo sie den Anblick auf sich wirken ließen. Keine der Opfergaben sah verwittert oder verwelkt aus. Die Blumen waren frisch, die Vasen mit Wasser gefüllt, die Farben der Stofftiere leuchteten, die Karten waren deutlich zu lesen. All das war nicht etwa vor Wochen bei irgendeiner Demo abgelegt worden. Irgendjemand hielt das hier am Laufen, Menschen kamen weiterhin hierher, hielten Mahnwache, teilten ihre Trauer.
Sie verschränkte die Hände im Rücken, schlenderte an diesem improvisierten Altar entlang und las sich ein paar Karten und Schilder durch.
Danke, Dr. Needham.
Gott segne Sie, Dr. Needham.
Wir werden Sie nie vergessen.
Unser Land verdankt Ihnen so viel!
Wir brauchen Sie dringend, Dr. Needham!
»Anscheinend wurde er von vielen geliebt«, stellte Sykes fest.
Ja, es sah ganz danach aus. Während des Fluges hatte Ronnie ein wenig recherchiert und sich sowohl sein Buch als auch einige Artikel über ihn heruntergeladen. Den Artikeln zufolge war Needham fast zu einer Art Kultfigur geworden. Manche hatten ihn den zukünftigen Martin Luther King dieser Generation genannt, auch wenn sein Thema nicht Diskriminierung, sondern Gewalt gewesen war.
Interessanterweise stellten ihn manche aber auch als Verräter an den Pranger.
»Und viele haben ihn gehasst«, entgegnete sie.
»Sicher. Zulieferer des Militärs, Waffenhersteller oder Aktivisten für Länder, die dem Erdboden gleichgemacht werden, weil wir ihnen
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