Der kleine Bruder: Der kleine Bruder
dicht an dicht saßen sie auf ihren Hockern wie schlechtgelaunte, schwarze Vögel, und nur an einer Stelle gab es eine Lücke, da stellte Frank sich hinein und sah, daß hinter dem Tresen niemand war. So stand er nun dort und wußte nicht, was er tun sollte. Er glaubte, den Atem der beiden Punks links und rechts von ihm auf den Schultern zu spüren, aber das ist sicher nur Einbildung, dachte er, man darf jetzt nicht paranoid werden, schärfte er sich ein, sowas merken die sicher, dachte er, und dann was? fügte er in Gedanken hinzu, obwohl, schon der Gedanke, daß man nicht paranoid werden darf, weil die das dann merken, dachte er, ist ja im Kern bereits paranoid, so schnell geht man in die selbstgestellte Falle, dachte er, und was, dachte er, während er noch immer darauf wartete, daß jemand hinter den Tresen kam und ihn bediente, ist schon gegen ein bißchen Paranoia einzuwenden, sie schärft vielleicht sogar die Sinne, so eine Paranoia, dachte er und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mal jemand Berufenen zu fragen, was das Wort Paranoia eigentlich genau bedeutete, nicht, daß er das nicht ungefähr wußte, aber wie viele solcher Wörter gibt es, dachte er, bei denen man eine ungefähre Ahnung hat, was sie bedeuten, eine Ahnung, die vielleicht auch stimmt, dachte er, die man aber, dachte er weiter, gar nicht in klare Worte fassen könnte oder wollte, weil einem die präzise Übersetzung, die wörtliche Bedeutung dieses Wortes nicht bekannt ist, dachte er, und man sich mit einer verschwommenen oder gar falschen Ahnung nicht blamieren möchte, und dann ist Holland in Not, gerade so wie hier an diesem Scheißtresen, dachte er und schaute zu Kar! hinüber, der ihn aber nicht beachtete, weil er alle Hände voll damit zu tun hatte, zu verhindern, daß Martin Bosbach von der Bank rutschte oder zur Seite kippte oder was immer die Schwerkraft mit dem wehr- und willenlosen Körper des Dr.-Votz-Bassisten gerade veranstalten wollte. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Er zuckte zusammen und hob im Reflex einen Arm, aber dann sah er, daß es nur Wolli war.
»Frankie, was machst du denn hier?« sagte Wolli, und es kam Frank nicht so vor, als ob Wolli sich freute, ihn zu sehen. Freude klingt anders, dachte Frank, und das fand er jetzt nicht ganz in Ordnung, denn so wenig er selbst sich freute, Wolli hier zu sehen, so sehr er eigentlich froh gewesen war, Woll i mal für einige Zeit von der Backe zu haben, so sehr gehörte es sich aber doch seiner Meinung nach, bei einem solch unverhofften Wiedersehen wenigstens ein bißchen Freude zu heucheln, schließlich hatte es einmal eine Zeit gegeben, in der er mit Wolli sogar zusammen gewohnt hatte, die war sogar, wenn man genau darüber nachdachte, erst seit ein paar Tagen vorbei, da könnte er doch wenigstens so tun, als freute er sich, dachte Frank.
»Naja, bin hier mit zwei Kumpels«, sagte er und zeigte zu Kar! und Martin hinüber, die sich, soweit er das erkennen konnte, einigermaßen in ihrer Ecke eingerichtet hatten, Kar! hatte Martin mit Hilfe einiger geschickt plazierter Stühle in einer realistischen Stellung stabilisiert, nur der Kopf des Ex-Bassisten neigte sich bedenklich nach hinten, aber das war nicht schlimm, man könnte denken, daß er gerade die Decke oder die Beleuchrung bewundert, dachte Frank beruhigt.
Wolli nickte. »Ja, schon gesehen. Hab mich bloß gewundert, was ihr hier macht!«
Das wird jetzt langsam unverschämt, dachte Frank, das verletzte ihn nun doch, daß einer wie Wal li seine Legitimation, in eine Punkkneipe zu gehen, anzweifelte, so, als ob man dazu eine Bescheinigung von der Punkbehörde braucht, dachte er mißmutig, kaum ist Wolli einem aus dem Auto gestiegen, schon wird er frech, dachte er.
»Aber du bist doch auch hier, Wolli«, sagte er.
»Ja, klar«, sagte Wolli. Er kratzte sich am Kopf, und man konnte sehen, daß irgend etwas an ihm nagte, er schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. Die restlichen Punker glotzten sie zwar an, mischten sich aber nicht ein, was bei der lauten Musik auch kaum möglich war, schon einen Meter weiter weg zu sein hieß hier, nichts mehr zu verstehen, geschweige denn mitreden zu können. »Aber wir sind ja immer hier, ich meine, das ist das Honka, da sind wir immer!«
»Wer ist wir, Wolli?«
»Ich und die Leute, bei denen ich jetzt wohne. Und die fragen sich gerade, wer deine Freunde da sind.«
»Wieso haben die sich das zu fragen, Wolli? Geht’s denen noch gut? Haben die keine eigenen
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