Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Ein Entführter, der spielen musste, was ihm vorgeschrieben wurde.
«Ein grandioser Plan», hörte er die Guarneri rufen. «Wann ist es so weit, Erhabene?»
«Nur noch ein paar Wochen», antwortete die Orgel. «Achte auf den Notenmond. Er steht schon sehr hoch. Der Flügel ist das letzte Instrument, das uns zum perfekten Klang noch fehlte. Bald, bald ist es so weit.»
Dann lachte Theodora, dunkel, grollend, aus den Tiefen ihrer Windkanäle heraus.
Der Flügel wollte nur noch weg, doch bei dem aufgeregten Versuch, die Treppe rückwärts wieder herunterzugehen, war er unachtsam und glitt mit einem Bein auf den steinernen Stufen ab. Es polterte, bis er sich schließlich wieder fing und zum Stehen kam.
«Was war das?», zischte die Orgel. «Schau nach, Guarneri!»
«Sofort, Erhabene», rief die Violine und eilte in Richtung des Treppenhauses.
In ein paar Sekunden würde sie den Flügel entdecken. Den heimlichen Lauscher! Die Strafe würde bestimmt furchtbar werden. Der Flügel duckte sich ängstlich, unfähig zu handeln.
Die Guarneri war jetzt schon sehr nahe – da ertönte ein Geräusch. Oben in der Thronhalle rumpelte und flatterte etwas in einer der steinernen Öffnungen. Als die Guarneri nach oben sah, erblickte sie eine große Tontaube, einen plumpen, hässlichen Vogel, dessen Körper aus erstarrten Missklängen zusammengesetzt war. So wurden in dieser Welt falsche Töne entsorgt – sie ballten sich zusammen, schwebten in die Atmosphäre und verwandelten sich ab einer bestimmten Konzentration in ebenjene unansehnlichen und «unanhörlichen» Tontauben. Meist lebten sie im Verborgenen und gurrten misstönend vor sich hin, aber immer wieder versuchte mal ein besonders vorwitziges, wenngleich dämliches Exemplar, im Turm ein Nest zu bauen. Theodora hasste Tontauben, denn die machten dabei jedes Mal einen Heidenlärm. Kaum hatte sie das Wesen entdeckt, schoss einer ihrer Orgelarme hervor, packte die Taube und zerdrückte sie. Es klang scheußlich, wenn die Tontaube ihr Leben aushauchte. Mit einem Misston, versteht sich.
«Widerliches Viehzeug», zischte Theodora.
Die Guarneri nickte angewidert und schwebte wieder in Theodoras Richtung.
«Vielleicht kam das Geräusch vorhin ja nur von dieser Kreatur. Sieh aber trotzdem noch mal auf der Treppe nach, ob da nicht doch jemand ist», befahl die Orgel.
Die Guarneri tat wie ihr befohlen und näherte sich wieder dem Treppenhaus. Doch sie sah niemanden, denn der Flügel hatte das unrühmliche und lautstarke Ende der Tontaube als willkommene Chance erkannt und sich vorsichtig und leise die Treppe heruntergeschlichen. Jetzt stand er mit klopfenden Tasten unten in der Halle und schüttelte sich. Das war knapp gewesen!
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Widerstand
D er Tag neigte sich. Das Zwielicht wurde nach und nach zur Dunkelheit, und der Flügel dachte noch lange über das Gehörte nach. Ihm war klar: Er war machtlos. Ein Opfer von Theodoras Machenschaften, genau wie die anderen Instrumente. Und genauso ein Opfer, wie die Menschen in ihrer Welt es bald sein würden, verdammt, dem Diktat der grässlichen Orgel zu folgen. Aber was nützte ihm das Grübeln? Warum sollte er sich nicht fügen, hilflos, wie er war? In der Nacht aber träumte er, sah sich auf einer Konzertbühne stehen und hörte sich spielen, improvisieren, bestaunte, wie er mit anderen Instrumenten im ständigen, spontanen Dialog zusammen musikalisches Neuland entdeckte. Doch schon am nächsten Morgen sah er sich wieder der düsteren Realität von Theodoras Welt ausgesetzt.
Die Orgel führte ein hartes Regiment. Wieder und wieder tauchten vor den Instrumenten Noten aus dem Keller des Cembalos auf und mussten werkgetreu gespielt werden. Wehe, jemand versagte. Einmal patzte ein Horn und verspielte sich. «Putzen wirst du, unwürdiges Exemplar!», brüllte Theodora, das Horn wurde von dem groben Kerl gepackt und weggeführt, und die Guarneri klatschte dazu mit ihrem Bogen Applaus.
Der Flügel schlug sich wacker; er spielte fehlerlos und spürte, wie sein Widerstand nach und nach geringer wurde. Was sollte das Zweifeln und Hadern? War es nicht bequemer, sich vom ewig Gleichen, Vorgegebenen einlullen zu lassen?
Es schien, als ob die Orgel siegen würde. Aber noch war da ein Kern von Auflehnung und Widerstand in ihm, den er tunlichst verbarg. Trost gaben ihm nur die gelegentlichen Treffen mit der dicken, freundlichen Tuba und der kleinen Querflöte. Auch die Celesta versuchte immer wieder, ihn aufzuheitern,
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