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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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und lobte sein Spiel, aber der Flügel wusste nicht, ob er ihr trauen konnte. Nie ließ sie Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Theodoras Regiment erkennen. War sie nur vorsichtig oder gänzlich auf Seiten der Orgel? Er wusste es nicht und blieb deshalb freundlich, aber etwas distanziert.

    An einem der folgenden Tage spürte der Flügel jedoch bereits am Morgen eine allgemeine Unruhe im Turm – es schien sich ein besonderes Ereignis anzukündigen. Die Instrumente wuselten herum, tuschelten, und ehe der Flügel jemanden fragen konnte, begann es auch schon. Erst hockte Theodora noch beinahe bewegungslos auf ihrem Thron und blickte auf die Schar der Instrumente hinunter. Aber dann brüllte sie auf einmal: «Stille!» Niemand rührte sich mehr. Es knirschte neben ihrem Thron in der Wand, eine hölzerne Abdeckung fuhr beiseite und gab den Blick auf eine gigantische Glocke frei, die dort in einer großen Nische hing. Es war ein prächtiges Exemplar mit einer wunderschön verzierten Krone, breiten Schultern und wohlgeformter Flanke. Der Flügel erinnerte sich, dass Bernhard Ogermann immer gesagt hatte, dass Glocken seit ihrer Erschaffung in der fernen Metallzeit als ein Sinnbild des Friedens, der Reinheit und Integrität galten, weil sie als Idiophone, also Selbstklinger, mit ihrem ganzen Körper schwingend ihren Klang erzeugen konnten. Auch eines solch erhabenen Instruments hatte sich Theodora also bemächtigt.
    Auf ein Kommando der Orgel begann die Glocke gleichmäßig zu schwingen, und nach einigen Schwüngen erreichte der überdimensionale Klöppel im Innern die feste bronzene Wand der Glocke, und wie eine gewaltige Welle ergoss sich ein klarer, sonorer Ton in den Turm hinein. Die Instrumente wussten: Das Erklingen der Glocke war für alle das Signal zur Missa Organis, einer gemeinsamen Totenmesse, die einem festgeschriebenen, immer gleich ablaufenden Ritual gehorchte.
    Alle waren noch nervöser als sonst; hier war der allerkleinste Fehler eine Katastrophe. Der Flügel sah sich um und entdeckte jetzt sogar ein Instrument, das er bisher noch gar nicht kennengelernt hatte – eine kleine Triangel. Auch die kleinste Vertreterin der idiophonen Instrumente hatte sich zitternd, aber erwartungsvoll in Position gebracht, um an der Zeremonie teilzuhaben. Pflichtbewusst hielt sie ihren Schlagstab im Anschlag, um in dem einzigen Moment, in dem sie einen Ton zum großen Ganzen beizusteuern hatte, auch rechtzeitig zur Stelle zu sein. Den Rest der Zeit machte sie ein so bedeutungsvolles Gesicht wie nur irgend möglich. Die Missa Organis stand an, und sie durfte ihren Einsatz auf keinen Fall verpassen.
    Doch an diesem Tage sollte es anders kommen.
    «Hört, ihr Instrumente», begrüßte Theodora mit ihrer schrillen Stimme ihre Untertanen und begann die Zeremonie, indem sie behutsam das Tabernakel öffnete. In diesem mit hölzernen Orgelpfeifen verzierten Schrein bewahrte sie besondere Partituren auf.
    «Heute», dröhnte die Orgel, «ist der Todestag von Theophanu, meiner stolzen Ururgroßmutter aus Konstantinopel, deren glänzendes Ebenbild wir im zweiten Saal sehen. Und deshalb werden wir am heutigen Tage gemeinsam wieder ein ganz besonderes Stück Musik spielen.»
    Dann schwieg sie kurz, fixierte den Flügel mit ihrem einen Auge und ergänzte: «Und du, Flügel, du wirst heute wieder spüren, wie wunderbar es ist, sich einzubetten in das große Ganze.»
    Theodora breitete die ausgewählte Partitur bedeutungsvoll auf einem großen Pult vor sich aus und öffnete knarrend die auf der Rückseite des Turmes angebrachten Schleusen. Mit wohligem Grunzen ließ sie den draußen stetig blasenden Wind in ihre Windkanäle strömen, die den Turm durchzogen wie ein weitverzweigtes Labyrinth aus hohlen Adern. Sie mündeten allesamt in den sogenannten Windladen, einen großen dunklen Raum, der sich wie eine überdimensionale Lunge inmitten des Turmes direkt unterhalb ihres Throns befand. Die dort aufgestaute Luft versorgte Theodoras riesige Labialpfeifen.
    «Jeder auf seine Position!», brüllt die Guarneri. Kopien der zu spielenden Noten rasten aus dem Keller empor und verharrten vor jedem Instrument in der Luft. Inzwischen hatte Theodora ihre Register so disponiert, dass die entstandene Luftsäule mit großem Druck an den scharfen Zungen der größten Pfeifen vorbeischießen konnte, um diese zum Schwingen zu bringen.
    Anfangs war nur ein unterdrücktes Ächzen und Heulen zu hören, als würde der gesamte Turm tief Luft holen, um seine

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