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Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)

Titel: Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kester Schlenz , Joja Wendt
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Nüstern zu blähen wie ein zum Kampf bereiter Stier.
    Kurz darauf erklang jedoch aus den Tiefen des Turmes ein tiefer, umfassender Ton – der Orgelpunkt, der mit aller Macht die Erde ringsumher erbeben ließ. Für den Flügel klang es, als erschüttere eine ganze Armee von Soldaten mit ihrem Aufmarsch den Boden. Theodora, die Erhabene, spielte, und auf ein Kommando der Guarneri fielen die Trompeten in den satten Ton ein. Ihre aus steilen Trichtern gepressten, obertonreichen hellen Klänge durchschnitten wie scharfe Messer die Luft. Und nun formierten sich auch die anderen Instrumentengruppen in kollektiver Unterwerfung zu einem gewaltigen, aus vielen Einzelstimmen zusammengesetzten, synchronen Klanggebilde, geformt wie ein aus unzähligen einzelnen Stückchen gefertigtes Mosaik. Zuletzt fielen auch die Gesandten des Bergkönigs mit schweren, kraftvollen Schlägen ein, bis das gemeinsame Spiel den Turm zum Erzittern brachte.
    Dreimal nahm dieses Wechselspiel Anlauf, um sich schließlich in einer klassischen Akkordfolge zu entladen.
    Stille.
    Dann begann Theodora, allein zu spielen. Ein barockes Orgelkonzert. Sie spielte virtuos. Perfekt. Die Töne durchdrangen alles um sie herum, hüllten jedes Instrument in einen Kokon aus Klängen.
    Nach und nach fielen alle mit ein, begleiteten die Orgel, peinlich genau den Noten folgend, die vor ihnen schwebten. Es war eine perfekte musikalische Symbiose. Jetzt war der Flügel an der Reihe. Er hatte einen nicht besonders schweren Part zu spielen und musste sich nicht sehr konzentrieren. Die Musik umfing ihn, und er spielte wie von selbst, fühlte sich als Teil des «großen Ganzen», wie Theodora es genannt hatte. Ihre Orgeltöne drangen in sein Innerstes. Er fühlte, dass etwas in ihm zu schmelzen begann. Sein kleiner, fester Widerstandskern verschwand langsam, schrumpfte unter der hypnotischen Urgewalt der Musik.
    «Es ist so leicht, sich zu unterwerfen», sagte eine Stimme. Das Auge Theodoras fixierte ihn. Alles begann sich zu drehen. Er spielte jetzt wie von selbst. Fremdgesteuert.
    «Nur das Kollektiv zählt», sagte die Stimme. «Gib deinen Widerstand auf. Du gehst in uns auf. Du musst nichts mehr allein entscheiden. Wir sagen dir, was du tun musst. Es ist so einfach. Es ist so schön.»
    Und der Flügel ergab sich. Ihm wurde warm um die Saiten. Warum sollte er noch kämpfen?
    Theodora hingegen triumphierte. Sie spürte, dass es so weit war – auch dieses stolze Instrument war nun ganz in ihrer Macht.
    Doch plötzlich durchbrach etwas die trügerische Wärme, die den Flügel umgab. Er erinnerte sich an die Stimme des alten Blüthners, hörte, wie der in der Lützenrieder Auktionshalle die uralten Worte des Seikilos rezitierte. Es schien Jahre her zu sein, aber diese Worte hatten Kraft. Nicht nur die Orgel nutzte sie. Der kleine Flügel hatte sich eine Stelle gemerkt, und jetzt retteten sie ihn:

    Solange du lebst, tritt auch in Erscheinung.

    Ja, er wollte in Erscheinung treten. Er wollte jemand sein! Nicht nur ohnmächtiger Teil eines Ganzen!
    «Neiiiiin!»
    Der kleine Flügel rief mit aller Kraft mitten in die Musik hinein.

    Alles verstummte. Auch Theodora unterbrach überrascht ihr Spiel. Und in die Stille hinein, mit einem rauschenden Arpeggio aus Quarten, die eine Tonalität aus Dur und Moll offenließen, führte der Flügel das eben Gespielte allein und ungefragt fort. Er improvisierte. Mit Leidenschaft und Hingabe genoss er für einen kurzen Moment das Spiel der sich auftuenden Kontraste, die aufsteigende und zerflatternde Dynamik, den schnellen Wechsel der Szene. Er vergaß alles um sich herum, zelebrierte die Auflösung aller Konturen, das geweitete Raumgefühl einer unwiederbringlich verlorenen Improvisation, die nur in diesem Moment aus dem Zufälligen herauswuchs und dem Flügel für kurze Zeit eine Welt auftat, die ihm im gemeinsamen reglementierten Musizieren bislang verschlossen geblieben war.
    Alle Instrumente um ihn herum erstarrten in blankem Entsetzen. So etwas hatte noch niemand gewagt. Eine solche Provokation! Theodoras Zorn würde furchtbar sein. Aber warum tat sie nichts? Die Orgel ließ, um Fassung ringend, den Flügel tatsächlich für einen kurzen Moment gewähren, unfähig, auf den Ungehorsam sofort zu reagieren. Sie begriff erst nicht. Was geschah hier? Das konnte nicht sein! Niemals bisher hatte jemand gewagt, ihre Macht und Vorherrschaft auf so unverschämte Art und Weise in Frage zu stellen. Doch dann fing sie sich, und ein mächtiger,

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