Der kleine Freund: Roman (German Edition)
aussah, als gehöre er Chester. Er lachte – nicht, als lache er über etwas Komisches, sondern einfach freundlich, als liebe er die Person, die die Kamera hielt. ROBIN du FEHLST UNS!!! stand unter dem Bild, und darunter hatten alle seine Klassenkameraden, die Examen machten, ihren Namen geschrieben.
Lange Zeit betrachtete sie das Bild. Sie würde niemals wissen, wie Robins Stimme geklungen hatte, aber sein Gesicht hatte sie ihr Leben lang geliebt, und seine Wandlungen hatte sie auf einer verblassenden Spur von Schnappschüssen zärtlich verfolgt: beliebige Augenblicke, Wunder aus gewöhnlichem Licht. Wie hätte er wohl als Erwachsener ausgesehen? Man konnte es nicht wissen. Nach dem Foto zu urteilen, war Pemberton ein sehr hässliches Baby gewesen, breitschultrig, krummbeinig, halslos; nichts wies darauf hin, dass er einmal gut aussehen würde.
Es gab auch keinen Danny Ratliff in Pems Klasse des Jahres davor (Pem war da, als Jolly Junior), aber als sie mit dem Finger an der alphabetischen Liste der Klasse unter Pemberton hinunterfuhr, stieß sie plötzlich auf seinen Namen: Danny Ratliff.
Ihr Blick sprang zu der Spalte gegenüber. Statt eines Fotos war da nur ein krakeliger Cartoon von einem Teenager, der mit aufgestützten Ellenbogen an einem Tisch saß und über einem Blatt brütete, auf dem »Mogeltricks für das Examen« stand. Unter der Zeichnung war in harten Beatnik-Blockbuchstaben zu lesen: ZU BESCHÄFTIGT – FOTO NICHT ERHÄLTLICH.
Er war also mindestens einmal sitzen geblieben. War er nach der zehnten Klasse ausgestiegen?
Als sie noch ein Jahr zurückging, fand sie ihn schließlich: ein Junge mit tief in die Stirn gebürsteten, dichten Haarsträhnen, sodass sie die Augenbrauen bedeckten. Er sah gut aus, aber auf eine bedrohliche Weise, wie ein rüpelhafter Popstar, und er wirkte älter als ein Neuntklässler. Seine Augen waren halb verborgen unter den langen Ponyfransen, was ihm einen niederträchtigen, verhüllten Gesichtsausdruck verlieh; seine Lippen waren dreist gespitzt, als wolle er einen Kaugummi ausspucken oder verächtlich schnauben.
Sie studierte das Bild lange. Dann schnitt sie es sorgfältig aus und schob es in ihr orangegelbes Notizbuch.
»Harriet, komm mal runter.« Idas Stimme kam vom Fuße der Treppe.
»Ma’am?«, rief Harriet und räumte hastig alles zusammen.
»Wer hat Löcher in diese Lunchbox gemacht?«
Hely ließ sich weder an diesem Nachmittag noch am Abend sehen. Am nächsten Morgen regnete es, und er kam auch nicht, und so beschloss Harriet, zu Edie hinüberzugehen und nachzusehen, ob sie Frühstück gemacht hatte.
»Ein Diakon!«, sagte Edie. »Will sich an einem Kirchenausflug für Witwen und alte Damen bereichern!« Sie sah gut aus in Khakihemd und Overall; sie wollte heute mit dem Garden Club auf dem Konföderiertenfriedhof arbeiten. »›Nun ja‹, hat er zu mir gesagt«, und sie spitzte die Lippen und äffte Mr. Dials Stimme nach, »›aber Greyhound würde Ihnen achtzig Dollar berechnen.‹ Greyhound! ›Ja‹, habe ich gesagt, ›das überrascht mich nun gar nicht! Nach allem, was ich höre, ist Greyhound immer noch ein gewinnorientiertes Unternehmen!‹«
Während sie redete, spähte sie über den Rand ihrer halbmondförmigen Brillengläser hinweg in die Zeitung; ihre Stimme klang königinhaft, ihr Ton war vernichtend. Von der Schweigsamkeit ihrer Enkelin hatte sie keine Notiz genommen, was Harriet (die still auf ihrem knusprigen Toast kaute)
noch inbrünstiger und entschlossener schmollen ließ. Seit dem Gespäch mit Ida war sie auf Edie ziemlich schlecht zu sprechen, gerade weil Edie unentwegt Briefe an Kongressabgeordnete und Senatoren schrieb, Petitionen verfasste und darum kämpfte, dieses alte Wahrzeichen oder jene gefährdete Tierart zu retten. War Idas Wohlergehen nicht genauso wichtig wie irgendein Wasservogel im Mississippi, der Edies Tatkraft so gründlich in Anspruch nahm?
»Natürlich hab ich nicht davon angefangen«, sagte Edie und rümpfte gebieterisch die Nase, als wolle sie sagen: Und er kann froh sein, dass ich es nicht getan habe, »aber ich werde Roy Dial nie verzeihen, wie er Daddy mit diesem letzten Auto übers Ohr gehauen hat. Daddy hat am Ende vieles durcheinander gebracht. Aber ebenso gut hätte er ihn niederschlagen und ihm das Geld aus der Tasche stehlen können.«
Harriet merkte, dass sie allzu übertrieben auf die Hintertür starrte, und wandte sich wieder ihrem Frühstück zu. Wenn Hely bei ihr zu Hause vorbeikam und sie
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