Der kleine Freund: Roman (German Edition)
hatte.
Vom Fenster aus sah Eugene zu, wie sein Bruder Curtis die Straße hinuntergaloppierte. Er hatte um diesen Besuch nicht gebeten und wusste jetzt nicht, wie er mit den Reptilien umgehen sollte, die zischend in ihren Kisten in der Mission herumlagen. Er hatte sich vorgestellt, dass sie in einem Kofferraum oder irgendwo in einer Scheune abgestellt und nicht in seiner eigenen Wohnung zu Gast sein würden. Wie vom Donner gerührt hatte er dagestanden, als Kiste um Kiste, mit Planen bedeckt, mühsam die Treppe heraufgeschleppt worden war.
»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass die Dinger ihr Gift noch haben?«, fragte er unvermittelt.
Dolphus’ Bruder war erstaunt. »So steht es im Einklang mit der Schrift«, sagte er. Seine näselnde Hill-Country-Redeweise war ebenso scharf ausgeprägt wie bei Dolphus, hatte aber nicht dessen Verschmitztheit und muntere Herzlichkeit. »Wenn wir mit Zeichen arbeiten, arbeiten wir mit den Schlangen, wie Gott sie gemacht hat.«
»Ich hätte aber gebissen werden können«, sagte Eugene knapp.
»Nicht, wenn du von Gott gesalbt bist, mein Bruder!«
Er wandte sich vom Fenster ab und sah ihn an, und sein strahlend durchdringender Blick ließ Eugene leicht zusammenzucken.
»Lies die Bücher der Propheten, mein Bruder! Das Evangelium nach Markus! Es kommt der Sieg über den Teufel in den letzten Tagen hier, wie es in der Bibel gesagt wird... Die Zeichen aber, die da folgen werden denen, die da glauben, sind die: In meinem Namen werden sie Teufel austreiben und Schlangen aufnehmen, und so sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden ...«
»Diese Tiere sind gefährlich.«
»Seine Hand hat die Schlange geschaffen, Bruder, wie sie auch das kleine Lamm geschaffen hat.«
Eugene antwortete nicht. Er hatte den vertrauensvollen Curtis eingeladen, mit ihm in der Wohnung auf die Ankunft des jungen Reese zu warten. Weil Curtis ein so heldenhaftes Hündchen war – entsetzt und mit nutzloser Tollpatschigkeit eilte er zu Hilfe, wenn er seine Lieben verletzt oder in Gefahr glaubte –, hatte Eugene ihm einen Schrecken einjagen wollen, indem er so tat, als sei er gebissen worden.
Aber der Witz war auf seine eigenen Kosten gegangen. Jetzt schämte er sich, weil er Curtis diesen Streich hatte spielen wollen, zumal dieser auf Eugenes Schreckensschrei mit großem Mitgefühl reagiert hatte, als die Klapperschlange auf das Drahtgitter losgegangen war und Eugenes Hand mit Gift bespritzt hatte; er hatte Eugenes Arm gestreichelt und fürsorglich nachgefragt: »Beißen? Beißen?«
»Das Mal in deinem Gesicht, mein Bruder?«
»Was ist damit?« Eugene war sich der grausigen roten Narbe wohl bewusst, die sich über sein Gesicht zog, und es war nicht nötig, dass Fremde ihn darauf aufmerksam machten.
»Stammt sie nicht vom Annehmen der Zeichen?«
»Ein Unfall«, sagte Eugene knapp. Die Verletzung war das Resultat eines Gebräus aus Lauge und Crisco-Backfett, im Gefängnisjargon
bekannt als »Angola Cold Cream«. Ein bösartiger heimtückischer Wicht namens Weems aus Cascilla, Mississippi, der wegen schwerer Körperverletzung einsaß, hatte es Eugene bei einem Streit um eine Packung Zigaretten ins Gesicht geworfen. Während Eugene von dieser Verätzung genas, war es geschehen, dass der Herr ihm im Dunkel der Nacht erschienen war und ihn von seiner Mission in der Welt in Kenntnis gesetzt hatte; Eugene war aus dem Lazarett gekommen – mit wiederhergestelltem Augenlicht und voller Bereitschaft, seinem Verfolger zu verzeihen –, aber Weems war tot gewesen. Ein anderer verstimmter Gefangener hatte ihm mit einer in den Griff einer Zahnbürste eingeschmolzenen Rasierklinge die Kehle durchgeschnitten – ein Akt, der Eugenes neu gefundenen Glauben an die machtvollen Turbinen der Vorsehung weiter vergrößert hatte.
»Wir alle, die wir Ihn lieben«, sagte Loyal, »tragen Sein Mal.« Und er streckte die Hände aus, die von Narbengewebe pockig zerfurcht waren. Ein schwarz gefleckter Finger war an der Spitze birnenförmig geschwollen und scheußlich anzusehen, und ein anderer war nur noch ein Stumpf.
»Es ist so«, sagte Loyal. »Wir müssen bereit sein, für Ihn zu sterben, wie Er bereit war, für uns zu sterben. Und wenn wir die tödliche Schlange aufheben und in Seinem Namen damit umgehen, dann zeigen wir unsere Liebe zu Ihm, wie er Seine Liebe zu dir und mir gezeigt hat.«
Eugene war gerührt. Der Junge meinte es offensichtlich ehrlich und war kein Jahrmarktschreier, sondern ein Mann, der
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