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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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durch die Gegend. Und der Kopf dieses speziellen, leicht erhabenen Nagels – schwarz und leicht schief, sodass er an den winzigen Sampanhut eines Chinesen erinnerte – selbst dieser Nagelkopf war ein unschuldiges, wohlmeinendes Objekt, an dem Harriet ihre
Aufmerksamkeit verankern konnte, ein willkommener Ruhepunkt im Chaos der Zeit. Wie oft war sie schon mit dem nackten Fuß auf diesen Nagel getreten? Er war geknickt von der Wucht des Hammerschlags und nicht so scharfkantig, dass man sich daran verletzen könnte, aber einmal, ungefähr im Alter von vier, war sie auf dem Hinterteil über den Dielenfußboden gerutscht und an diesem Nagel hängen geblieben. Sie hatte sich ihre Unterhose aufgerissen: eine blaue Unterhose von Kiddie Korner, eine von einem ganzen Satz Hosen, die jeweils in rosa Buchstaben mit den Namen der Wochentage bestickt waren.
    Drei, sechs, neun. Der Nagelkopf war standhaft; er hatte sich nicht verändert, seit sie ein Baby war. Nein: Er war geblieben, wo er immer war, und residierte still in seinem Tidentümpel hinter der Flurtür, während der Rest der Welt den Bach hinunterging. Sogar Kiddie Korner, wo bis vor kurzem alle ihre Kleider gekauft worden waren, gab es nicht mehr. Die winzige, rosig gepuderte Mrs. Rice, die eine unveränderliche Einrichtung in Harrietts ersten Lebensjahren mit ihren großen schwarzen Brillengläsern und ihrem großen goldenen Amulettarmband gewesen war, hatte das Geschäft verkauft und war ins Altersheim gezogen. Harriet ging nicht gern an dem leeren Laden vorbei, und tat sie es doch, blieb sie immer mit der Hand an der Schläfe stehen, um durch die staubige Scheibe zu spähen. Jemand hatte die Vorhänge von den Ringen gerissen, und die Vitrinen waren leer. Der Boden war mit Zeitungspapier übersät, und gespenstische, kindergroße Puppen – bräunlich, nackt, mit modellierten Pagenfrisuren – standen im leeren Halbdunkel und starrten hierhin und dorthin.
    Jesus war der Stein, gehauen aus dem Berge
Jesus war der Stein, gehauen aus dem Berge
Jesus war der Stein, gehauen aus dem Berge
Und er reißet ein die Reiche dieser Welt...
    Foursies. Fivesies. Sie war die Jacks-Meisterin von Amerika. Sie war Jacks-Weltmeisterin. Mit kaum bemühter Begeisterung rief sie die Punkte aus, bejubelte sich selbst, wippte vor Staunen über ihre eigene Leistung auf den Fersen zurück. Eine Zeit lang fühlte sich diese Aufregung fast so an, als habe sie Spaß. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nie ganz vergessen, dass es niemanden interessierte, ob sie Spaß hatte oder nicht.

    Danny Ratliff fuhr mit einem unangenehmen Ruck aus seinem Nickerchen hoch. Er hatte in den letzten Wochen mit wenig Schlaf auskommen müssen, weil sein ältester Bruder, Farish, in dem Präparierschuppen hinter dem Wohnwagen ihrer Großmutter ein Methamphetaminlabor eingerichtet hatte. Farish war kein Chemiker, aber das Amphetamin war nicht schlecht und das ganze Projekt somit eine Goldgrube. Mit den Drogen, seiner Behindertenrente und den Hirschköpfen, die er für die Jäger in der Umgebung präparierte, verdiente Farish fünfmal so viel wie in alten Zeiten, als er in Häuser eingebrochen war und Batterien aus Autos gestohlen hatte. Um solche Geschäfte machte er heutzutage einen weiten Bogen. Seit seiner Entlassung aus der psychiatrischen Klinik weigerte sich Farish, seine beträchtlichen Talente anders als in beratender Eigenschaft zur Anwendung zu bringen. Zwar hatte er seinen Brüdern alles beigebracht, was sie wussten, aber er beteiligte sich nicht mehr an ihren Unternehmungen; er weigerte sich, detaillierten Beschreibungen einzelner Jobs zuzuhören, weigerte sich sogar, im Auto mitzufahren. Obwohl er unendlich viel begabter als seine Brüder war, wenn es darum ging, Schlösser zu knacken, Autos kurzzuschließen, Objekte auszuspähen und sich aus dem Staub zu machen, war diese neue Politik des Heraushaltens letzten Endes für alle sehr viel klüger; denn Farish war ein Meister, und zu Hause war er sehr viel nützlicher als hinter Gittern.
    Das Geniale an dem Methamphetaminlabor bestand darin, dass das Präparatorengeschäft (das Farish mit Unterbrechungen zwanzig Jahre lang ganz legal betrieben hatte) ihm Zugang
zu Chemikalien eröffnete, die sonst eher mühsam zu beschaffen gewesen wären. Außerdem war der Gestank des Taxidermiebetriebs hilfreich dabei, den ausgeprägten Geruch von Katzenpisse, der bei der Meth-Herstellung entstand, zu überlagern. Die Ratliffs wohnten im Wald, ein

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