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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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nicht da war, kam er immer hierher, und das war ihr manchmal unbehaglich, denn Edie tat nichts lieber, als sie mit Hely aufzuziehen, indem sie ganz zufällig etwas von Sweethearts und Romanzen murmelte und leise kleine Liebeslieder vor sich hinsummte, die Harriet rasend machten. Harriet ertrug jegliche Art von Neckereien nur schwer, aber wenn man sie mit Jungen aufzog, geriet sie außer sich vor Wut. Edie tat, als wisse sie das nicht, und wich in theatralischem Erstaunen vor den Resultaten ihres Treibens (Tränen, Protesten) zurück. »Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel!«, erklärte sie fröhlich und in einem heiter spöttischen Tonfall, den Harriet verabscheute, oder sie bemerkte etwas selbstgefälliger: »Du musst diesen kleinen Jungen ja wirklich gern haben, wenn es dich so aus dem Häuschen bringt, wenn man über ihn redet.«
    »Ich finde«, sagte Edie und schreckte Harriet damit aus ihren Erinnerungen auf, »sie sollten ihnen in der Schule ein warmes Mittagessen geben, aber für die Eltern keinen Cent!« Sie redete über einen Artikel in der Zeitung. Kurz vorher hatte sie vom Panamakanal
gesprochen, und wie verrückt es sei, das Ding einfach wegzugeben.
    »Ich denke, ich werde jetzt mal die Todesanzeigen lesen«, verkündete sie. »Das hat Daddy immer gesagt: ›Ich werde wohl erst mal die Todesanzeigen lesen und nachsehen, ob jemand, den ich kenne, gestorben ist.‹«
    Sie blätterte nach hinten. »Ich wünschte, es würde aufhören zu regnen«, sagte sie mit einem Blick aus dem Fenster, als habe sie vergessen, dass Harriet anwesend war. »Es gibt auch drinnen reichlich zu tun. Der Geräteschuppen muss sauber gemacht und die Blumentöpfe müssen desinfiziert werden. Aber ich garantiere dir, die Leute werden aufwachen und nur einen Blick auf dieses Wetter werfen ...«
    Wie aufs Stichwort klingelte das Telefon.
    »Da haben wir’s.« Edie klatschte in die Hände und stand vom Tisch auf. »Die erste Absage des Morgens.«

    Harriet ging mit gesenktem Kopf durch den Nieselregen nach Hause; sie hatte sich von Edie einen gigantischen Schirm ausgeliehen, mit dem sie, als sie kleiner war, Mary Poppins gespielt hatte. Das Wasser gurgelte in der Gosse. Lange Reihen von orangegelben Taglilien, vom Regen niedergedrückt, neigten sich aberwitzig über den Gehweg, als wollten sie sie anschreien. Halb rechnete sie damit, Hely in seinem gelben Regenmantel durch die Pfützen plantschend heranrennen zu sehen; sie war entschlossen, ihn zu ignorieren, wenn er käme, aber die dampfende Straße war leer: keine Leute, keine Autos.
    Da niemand da war, der sie daran gehindert hätte, im Regen zu spielen, hüpfte sie ostentativ von Pfütze zu Pfütze. Sprachen sie und Hely nicht mehr miteinander? Ihre längste Schweigepause lag lange zurück, in der vierten Klasse. Sie hatten in der Schule Streit bekommen, während einer Winterpause im Februar, als der Schneeregen gegen die Fenster prasselte und alle Kinder aufgebracht waren, weil sie drei Tage hintereinander nicht auf den Schulhof durften. Das Klassenzimmer war überfüllt, und es stank: nach Schimmel und Kalkstaub
und sauer gewordener Milch, aber vor allem nach Urin. Der Teppichboden dünstete diesen Gestank aus, und an feuchten Tagen wurde man verrückt davon. Die Kinder hielten sich die Nasen zu oder taten, als müssten sie sich übergeben, und sogar die Lehrerin, Mrs. Miley, durchstreifte den hinteren Teil des Klassenzimmers mit einer Dose Raumduftspray, den sie in gleichmäßigen, unentwegten Bögen versprühte, während sie die Matheaufgaben erklärte oder etwas diktierte. Unablässig sank ein sanfter, desodorierender Dunst auf die Köpfe der Kinder herab, und wenn sie nach Hause gingen, rochen sie wie Kloschüsseln in der Damentoilette.
    Mrs. Miley durfte ihre Klasse eigentlich nicht unbeaufsichtigt lassen, aber ihr gefiel der Pipigeruch ebenso wenig wie den Kindern, und oft trottete sie über den Flur zu Mrs. Rideout, die die fünfte Klasse unterrichtete, um mit ihr zu plaudern. Sie ernannte immer ein Kind, das die Aufsicht führen musste, wenn sie weg war, und diesmal war es Harriet.
    »Die Aufsicht führen« machte keinen Spaß. Während Harriet an der Tür Wache hielt und aufpasste, wann Mrs. Miley zurückkam, rannten die übrigen Kinder – die nur darauf achten mussten, wieder rechtzeitig auf ihren Plätzen zu sein – in dem übel riechenden, überheizten Raum herum, spielten Fangen, warfen mit Damesteinen und drückten einander Kugeln aus zusammengeknülltem

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