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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zu inspizieren, ebenfalls ein Chevrolet; möglicherweise auch nur, um die armen Mormonen zu kontrollieren, die er zwar mochte, aber trotzdem gnadenlos schikanierte, mit provokanten Passagen aus der Schrift aufzog und sie nach ihren Ansichten über das Leben nach dem Tode und dergleichen befragte.
    Erst als der Chevy ansprang (mit einem ziemlich trägen, wiederstrebenden Klang für ein so neues Auto), wandte Eugene sich wieder seinem Besucher zu, der inzwischen das Knie gebeugt hatte und inbrünstig erzitternd betete, Daumen und Zeigefinger in die Augenhöhlen gepresst wie ein christlicher Athlet vor einem Footballspiel.
    Eugene fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, seinen Besucher im Gebet zu stören, aber ebenso sehr widerstrebte es ihm, sich ihm anzuschließen. Leise ging er zurück ins vordere Zimmer und nahm eine warme, schwitzende Käseecke aus seinem Kühlkoffer. Er hatte sie erst heute Morgen gekauft, und seitdem war sie nie ganz aus seinen Gedanken verschwunden. Mit seinem Taschenmesser schnitt er sich einen üppigen Brocken davon ab und schlang ihn ohne Cracker hinunter, die Schultern hochgezogen und den Rücken der offenen Tür zugewandt, während sein Gast nebenan immer noch zwischen den Dynamitkisten kniete, und er fragte sich, wieso er nie auf den Gedanken gekommen war, in der Mission Vorhänge anzubringen. Bisher war das nie notwendig erschienen, da er ja im ersten Stock wohnte; sein eigener Garten war zwar kahl, aber die Bäume in den anderen Gärten schirmten das Haus vor Blicken aus den Nachbarfenstern ab. Trotzdem, etwas mehr Privatsphäre wäre wohl angebracht, solange die Schlangen sich in seiner Obhut befanden.

    Ida Rhew steckte den Kopf durch die Tür in Harriets Zimmer. Sie hatte einen Stapel frischer Handtücher auf dem Arm. »Du schneidest doch keine Bilder aus dem Buch da, oder?« Sie beäugte die Schere, die auf dem Teppich lag.
    »Nein, Ma’am«, sagte Harriet. Durch das offene Fenster wehte leise das Schnurren von Kettensägen: Bäume kippten, einer nach dem anderen. Expansion, das war alles, was die Diakone der Baptistenkirche im Kopf hatten: neue Gemeinschaftsräume, neue Parkplätze, ein neues Jugendzentrum. Bald gäbe es im ganzen Block keinen einzigen Baum mehr.
    »Lass dich dabei ja nicht von mir erwischen.«
    »Nein, Ma’am.«
    »Was soll dann die Schere da?« Streitsüchtig deutete sie mit dem Kopf darauf. »Räum sie weg«, sagte sie, »sofort.«
    Harriet ging gehorsam zu ihrem Schreibtisch, legte die Schere in die Schublade und schloss sie. Ida rümpfte die Nase und trollte sich. Harriet setzte sich auf das Fußende ihres Bettes und wartete. Als Ida außer Hörweite war, zog sie die Schublade wieder auf und nahm die Schere heraus.
    Harriet besaß sieben Jahrbücher der Alexandria Academy, angefangen mit dem ersten Schuljahr. Pemberton hatte die Schule zwei Jahre zuvor abgeschlossen. Seite um Seite blätterte sie in seinem letzten Jahrbuch und studierte jedes Foto. Pemberton war überall: auf den Gruppenbildern der Tennis- und der Golfmannschaft. In karierter Hose, zusammengesunken an einem Tisch im Bibliotheksraum. Mit schwarzer Krawatte vor einem glitzernden Hintergrund mit weißen Fahnen, zusammen mit den anderen vom Homecoming-Komitee. Seine Stirn glänzte, und sein Gesicht leuchtete in einem wilden, glücklichen Rot; er sah aus, als sei er betrunken. Diane Leavitt, Lisa Leavitts große Schwester, hatte sich mit behandschuhter Hand bei ihm eingehängt, und obwohl sie lächelte, wirkte sie ein bisschen verdattert darüber, dass Angie Stanhope und nicht sie soeben zur Homecoming Queen gewählt worden war. Die strahlende Angie Stanhope: Sie hatte in diesem Jahr einfach alles gewonnen, gleich nach der High School geheiratet, und jetzt war sie teigig und verblichen und füllig, wenn Harriet sie im Supermarkt sah.
    Und dann die Porträts der Abgangsschüler. Smokings, Pickel, Perlen. Mädchen vom Lande mit breitem Kinn, die in der
Dekoration des Fotografen unbeholfen aussahen. Nur von Danny Ratliff keine Spur. War er durchgefallen? Ausgestiegen? Sie blätterte um und kam zu den Babybildern der Examensschüler (Diane Leavitt sprach in ein Spieltelefon aus Plastik, der stirnrunzelnde Pem in feuchter Windelhose watschelte um ein Planschbecken herum), und sie erblickte völlig unvorbereitet ein Foto ihres toten Bruders.
    Ja, Robin. Da war er auf der Seite gegenüber, ganz für sich allein, zierlich und sommersprossig und fröhlich, mit einem großen Strohhut auf dem Kopf, der

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