Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Enkelinnen ohne Vater aufwuchsen, hätte weder sie noch sonst jemand je behauptet, dass Dix’ Rückkehr an diesem Mangel etwas ändern würde.
Harriet war äußerst finster gelaunt – so finster, dass ihr die Ironie des Smiley- T-Shirts eigentlich schon wieder gefiel. Dieser selbstzufriedene Ausdruck erinnerte sie an ihren Dad, auch wenn für ihren Dad kaum Grund bestand, so fröhlich zu sein, geschweige denn solche Fröhlichkeit von Harriet zu erwarten. Kein Wunder, dass Edie ihn verabscheute. Man hörte es schon daran, wie sie seinen Namen aussprach: Dixon, niemals Dix.
Harriets Nase lief, und ihre Augen brannten vom Chlorwasser. Sie setzte sich auf die Fensterbank und schaute durch den Vorgarten auf das satte Grün der Bäume. Nach dem vielen Schwimmen fühlten ihre sich Glieder schwer und seltsam an, und ein dunkler Lack der Trauer hatte sich auf das Zimmer gelegt, wie es meistens geschah, wenn Harriet nur lange genug stillsaß. Als kleines Mädchen hatte sie manchmal ihre Adresse vor sich hingesungen, wie sie einem Besucher aus dem Weltall erscheinen musste: Harriet Cleve Dufresnes, 363 George Street, Alexandria, Mississippi, Amerika, Planet Erde, Milchstraße... und das Gefühl von hallender Weite, das Gefühl, verschluckt zu werden vom schwarzen Schlund des Universums – das winzigste weiße Körnchen in einem endlosen Geriesel von weißem Zucker –, war manchmal so, als müsse sie ersticken.
Sie nieste heftig. Kleine Tröpfchen sprühten überall hin. Sie hielt sich die Nase zu, sprang mit tränenden Augen auf und lief die Treppe hinunter, um sich ein Kleenex zu holen. Das Telefon klingelte, und sie sah kaum, wo sie hinlief; Ida stand am Telefontisch am Fuße der Treppe, und ehe Harriet sich versah, sagte Ida: »Da kommt sie«, und drückte ihr den Hörer in die Hand.
»Harriet, paß auf. Danny Ratliff ist jetzt in der Pool Hall, er
und sein Bruder. Die waren das, die von der Brücke auf mich geschossen haben.«
»Moment mal«, sagte Harriet völlig desorientiert. Mit Mühe unterdrückte sie einen zweiten Nieser.
»Aber ich hab ihn gesehen, Harriet. Und er ist unheimlich. Er und sein Bruder.«
Und er plapperte immer weiter, von Raub und Gewehren und Glücksspiel und Diebstahl. Staunend hörte sie zu, und der Niesreiz war vergangen. Nur ihre Nase lief noch, und ungelenk bog sie sich und versuchte, sie an dem kurzen Ärmel ihres T-Shirts abzuwischen, mit der gleichen rollenden Kopfbewegung, mit der Weenie der Kater den Teppich bearbeitet hatte, um etwas aus dem Auge zu entfernen.
»Harriet?« Hely brach mitten in seiner Erzählung ab. Vor lauter Eifer, ihr zu erzählen, was passiert war, hatte er ganz vergessen, dass sie nicht miteinander sprachen.
»Ich bin noch dran.«
Ein kurzes Schweigen folgte, in dem Harriet den Fernseher hörte, der bei Hely im Hintergrund fröhlich schnatterte.
»Wann bist du aus der Pool Hall weggegangen?«, fragte sie.
»Vor ungefähr einer Viertelstunde.«
»Meinst du, die sind noch da?«
»Kann sein. Es sah aus, als ob es eine Schlägerei geben würde. Die Typen von dem Boot waren sauer.«
Harriet nieste. »Ich will ihn sehen. Ich fahre sofort mit dem Rad hin.«
»Hey, auf gar keinen Fall!«, sagte Hely erschrocken, aber sie hatte schon aufgelegt.
Es hatte keine Schlägerei gegeben, jedenfalls nichts, was Danny so bezeichnet hätte. Als es einen Moment lang so ausgesehen hatte, als ob Odum nicht zahlen wollte, nahm Farish einen Stuhl und schlug ihn damit zu Boden. Dann fing er an, methodisch auf ihn einzutreten (während seine Kids im Eingang kauerten), und schon bald flehte Odum ihn heulend an, das Geld zu nehmen. Die Männer vom Krabbenboot gaben eher
Anlass zur Besorgnis; sie hätten eine Menge Ärger machen können, wenn sie gewollt hätten. Aber auch wenn der dicke Mann im gelben Hemd mit ein paar farbenprächtigen Ausdrücken um sich geworfen hatte, begnügten die anderen sich mit leisem Gemurre und lachten sogar, wenn auch ein bisschen verärgert. Aber sie hatten Urlaub und jede Menge Kohle.
Auf Odums Mitleid erregende Appelle reagierte Farish völlig ungerührt. Fressen oder gefressen werden, das war seine Philosophie, und alles, was er jemand anderem wegnehmen konnte, betrachtete er als sein rechtmäßiges Eigentum. Während Odum voller Panik hin und her hinkte und Farish anflehte, er möge doch an die Kinder denken, musste Danny bei Farishs aufmerksamem, freundlichem Gesichtausdruck daran denken, wie Farishs zwei Deutsche Schäferhunde aussahen,
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