Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Muskel bewegt, aber ihr Blick war nicht mehr auf das Buch gerichtet, sondern auf ihn, und zwar schon seit einer ganzen Weile, wie es einem manchmal mit Meth passierte, wenn man ein Straßenschild anschaute und es dann noch zwei Stunden lang andauernd sah. Es ging ihm auf die Nerven, genau wie vorher der Cowboyhut auf dem Bett. Speed versaute einem wirklich das Zeitgefühl ( darum heißt es ja auch Speed!, dachte er, und heiß durchströmte ihn Begeisterung über die eigene Cleverness: Der Speeder wird schneller! Die Zeit wird langsamer! ), ja, es dehnte die Zeit wie ein Gummiband, ließ sie vor- und zurückschnappen, und manchmal hatte Danny das Gefühl, dass alles auf der Welt ihn anstarrte, sogar Katzen und Kühe und die Bilder in einer Illustrierten ... Eine Ewigkeit schien vergangen
zu sein, und Wolken flogen über ihn hinweg wie im Zeitraffer in einem Naturfilm, und immer noch sah das Mädchen ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihre Augen waren von kaltem Grün wie bei einer Wildkatze aus der Hölle, wie beim Teufel selbst.
    Aber nein: Sie starrte ihn überhaupt nicht an. Sie schaute auf ihr Buch, als habe sie die ganze Zeit gelesen. Die Läden waren zu, kein Auto weit und breit, lange Schatten, der Asphalt schimmerte wie in einem bösen Traum. In einem Flashback erlebte Danny einen Morgen in der vergangenen Woche, als er ins White Kitchen gegangen war, nachdem er die Sonne über dem Stausee hatte aufgehen sehen: Kellnerin, Cop, Milchmann und Postbote, alle hatten die Köpfe gedreht und ihn angestarrt, als er die Tür aufstieß – ganz zufällig, als reagierten sie nur neugierig auf das Klingeln der Glocke –, aber sie meinten es ernst, ihn, jawohl, ihn starrten sie an, überall Augen, alle strahlend grün wie ein Satan in Leuchtfarbe. Da war er seit zweiundsiebzig Stunden auf den Beinen gewesen, matt und feuchtkalt überall, hatte sich gefragt, ob sein Herz in der Brust vielleicht gleich platzen würde wie ein dicker Wasserballon, gleich hier im White Kitchen, während die Blicke der merkwürdigen kleinen Teenager-Kellnerinnen grüne Dolche waren...
    Langsam, langsam, sagte er zu seinem rasenden Herzen. Und wenn die Kleine ihn angestarrt hatte? Na und? Fuck, na und? Danny hatte selbst viele heiße, öde Stunden da drüben auf dieser Bank verbracht und auf seinen eigenen Vater gewartet. Nicht das Warten war so schlimm gewesen, sondern die Angst vor dem, was er und Curtis später vielleicht abkriegen würden, wenn das Spiel nicht gut gelaufen war. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass Odum sich nicht auf die gleiche Weise über seine Verluste hinwegtröstete: So ging es zu in der Welt. »Solange ihr unter meinem Dach...« Die Glühbirne über dem Küchentisch schwang an ihrer Schnur hin und her, und ihre Großmutter stand am Herd und rührte in irgendeinem Topf, als kämen das Fluchen und Schlagen und Schreien aus dem Fernseher.
    Beinahe krampfhaft verdrehte sich Danny und wühlte in seiner Tasche nach etwas Kleingeld, das er dem Mädchen zuwerfen könnte. Sein Vater hatte das Gleiche manchmal bei den Kindern anderer Männer getan, wenn er gewonnen hatte und guter Laune war. Unversehens schwebte eine unwillkommene Erinnerung an Odum selbst aus der Vergangenheit herauf – ein magerer Teenager in einem zweifarbigen Sporthemd, die weißblonde Entenschwanzfrisur gelblich von dem Fett, mit dem er sich kämmte, hockte mit einem Päckchen Kaugummi in der Hand neben dem kleinen Curtis und sagte, er solle doch nicht heulen ...
    Mit einem Knall – einem hörbaren Knall, den er spüren konnte wie eine kleine Detonation in seinem Kopf – merkte Danny verblüfft, dass er die ganze Zeit laut gesprochen hatte, während er glaubte, er denke still vor sich hin. Oder doch nicht? Die Vierteldollarstücke waren noch in seiner Hand, aber als er den Arm hob, um sie hinüberzuwerfen, schoss eine zweite Schockwelle durch seinen Kopf, denn das Mädchen war nicht mehr da. Die Bank war leer, keine Spur mehr von ihr und auch sonst von keinem lebenden Wesen, nicht mal von einer streunenden Katze, nirgends auf der Straße.
    »Jodel-ay-hii-hoo«, sagte er bei sich, sehr leise, tonlos.

    »Aber was ist passiert ?« Hely zappelte vor Ungeduld. Sie saßen auf der verrosteten Eisentreppe vor einem verlassenen Baumwollschuppen bei den Bahngleisen. Das Gelände war sumpfig und lag hinter Krüppelkiefern versteckt, und der stinkende schwarze Schlamm zog die Fliegen an. Die Tore des Schuppens waren mit schwarzen Flecken gesprenkelt,

Weitere Kostenlose Bücher