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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hinauszufahren, ja, kaum genug Platz, um es herumzudrehen. Er packte die Lenkstange, wuchtete und sägte hin und her, bis er das Vorderrad nach vorn manövriert hatte, und dann schob er das Rad im Laufschritt hinaus
auf den Gehweg – wo zu seinem Schrecken Lasharon Odum mit dem Baby stand und auf ihn wartete.
    Hely erstarrte. Träge rückte sie das Baby auf ihrer Hüfte herauf und schaute ihn an. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie von ihm wollte, aber er wagte auch nicht, etwas zu sagen; also blieb er einfach stehen und starrte sie an, während sein Herz in der Brust galoppierte.
    Nach einer Ewigkeit, wie es schien, rückte sie das Baby erneut zurecht und sagte: »Schenk mir das Heft.«
    Wortlos griff Hely in die Gesäßtasche und reichte ihr das Heft. Gelassen und ohne einen Funken Dankbarkeit verlagerte sie das Gewicht des Babys auf einen Arm und wollte es mit der anderen Hand nehmen, aber ehe sie es tun konnte, streckte das Baby die Arme aus und ergriff das Heft mit schmutzigen kleinen Händen. Mit ernstem Blick hielt es sich das Comic-Heft dicht vors Gesicht und schloss dann versuchsweise die klebrigen, gelb verschmierten Lippen darum.
    Hely sah es mit Abscheu; es war eine Sache, wenn sie das Heft lesen wollte, aber eine ganz andere, wenn sie es haben wollte, damit das Baby darauf herumkauen konnte. Lasharon traf keine Anstalten, ihm das Heft wegzunehmen. Stattdessen schaute sie es mit Kulleraugen an und wippte es zärtlich auf und ab, ganz so, als wäre es sauber und reizend und nicht so ein verschleimter kleiner Röchler.
    »Warum Diddy weint?«, fragte sie es munter mit Babystimme und schaute in das winzige Gesicht. »Warum Diddy weint da drinnen?«

    »Zieh dir was an«, sagte Ida Rhew zu Harriet. »Du tropfst alles voll.«
    »Mach ich gar nicht. Ich bin auf dem Heimweg getrocknet.«
    »Du ziehst dir trotzdem was an.«
    In ihrem Zimmer wand Harriet sich aus dem klammen Badeanzug und zog Khakishorts und das einzige saubere T-Shirt an, das sie hatte: weiß mit einem gelben Smiley auf der Brust. Sie verabscheute dieses Smiley-T-Shirt. Es war ein Geburtstagsgeschenk
ihres Vaters; so würdelos es auch war, er musste doch aus irgendeinem Grund gefunden haben, dass es zu ihr passte, und dieser Gedanke ärgerte Harriet mehr als das Hemd an sich.
    Harriet wusste es nicht, aber das Smiley-T-Shirt (und die Baskenmütze mit dem Peace-Zeichen und all die anderen bunten und unangebrachten Sachen, die ihr Vater ihr zum Geburtstag geschickt hatte) war überhaupt nicht von ihrem Vater ausgesucht worden, sondern von seiner Geliebten in Nashville, und wenn diese Geliebte (sie hieß Kay) nicht gewesen wäre, hätten Harriet und Allison überhaupt keine Geburtstagsgeschenke bekommen. Kay war die Erbin einer kleinen Softdrink-Firma, leicht übergewichtig, mit einer zuckrigen Stimme, einem weichen, schlaffen Lächeln und ein paar psychischen Problemen. Sie trank auch ein bisschen zu viel, und in irgendwelchen Bars dachten sie und Harriets Vater gemeinsam weinerlich an seine armen kleinen Töchter, die da unten in Mississippi bei ihrer verrückten Mutter festsaßen.
    Jeder in der Stadt wusste von Dix’ Geliebte in Nashville, nur nicht seine eigene Familie und die seiner Frau. Niemand war mutig genug, es Edie zu sagen, oder herzlos genug, es den anderen zu erzählen. Dix’ Kollegen in der Bank wussten Bescheid, und sie missbilligten die Liaison, denn gelegentlich brachte er die Frau mit zu Veranstaltungen der Bank. Roy Dials Schwägerin, die in Nashville wohnte, hatte Mr. und Mrs. Dial überdies erzählt, dass die beiden Turteltauben sogar ein gemeinsames Apartment hätten. Mr. Dial (was man ihm zugute halten muss) behielt diese Information bis heute für sich, wohingegen Mrs. Dial sie sofort in ganz Alexandria herumposaunt hatte. Sogar Hely wusste es. Er hatte es von seiner Mutter aufgeschnappt, als er neun oder zehn Jahre alt war. Darauf angesprochen, hatte sie ihn schwören lassen, dass er es Harriet gegenüber niemals erwähnen werde, und er hatte es auch nie getan.
    Hely wäre es nie in den Sinn gekommen, seiner Mutter nicht zu gehorchen. Aber obwohl er das Geheimnis für sich behielt  – das einzige echte Geheimnis, das er vor Harriet hatte –,
glaubte er nicht, dass sie besonders aufgebracht sein würde, wenn sie es erführe. Und mit dieser Annahme lag er ganz richtig. Außer Edie – aus verletztem Stolz – hätte sich niemand einen Deut darum geschert, und selbst wenn Edie oft darüber murrte, dass ihre

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