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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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bedauerlicherweise verschwunden. Er wiegte sich hin und her und schlug mit dem Absatz seines Turnsschuhs rhythmisch gegen die Metallstufe, bong bong bong bong  ...
    Was war das für eine Geschichte mit dem Grab, wovon redete sie überhaupt? Er erzählte ihr immer alles. Er war ganz heiß auf eine Konferenz im Werkzeugschuppen gewesen: düsteres Raunen, Drohungen, Komplotte, Spannung, ja selbst ein Angriff von Harriet wäre besser als nichts gewesen.
    Schließlich stand er auf, seufzte übertrieben und streckte sich. »Okay«, sagte er wichtigtuerisch, »folgender Plan. Wir üben mit der Schleuder bis zum Mittagessen. Hinten auf dem Trainingsgelände.« Was Hely gern als »Trainingsgelände« bezeichnete, war der abgeschiedene Teil seines Gartens zwischen den Gemüsebeeten und dem Schuppen, in dem sein Vater den Rasenmäher abstellte. »Und dann, in ein, zwei Tagen, gehen wir zu Pfeil und Bogen über...«
    »Ich hab keine Lust zum Spielen.«
    »Na, ich auch nicht.« Hely war gekränkt. Sein Pfeil-und-Bogen-Set war ein Kinderspielzeug mit blauen Saugnäpfen an den Spitzen, das, selbst wenn es ihn demütigte, doch besser als gar nichts war.
    Aber keiner seiner Pläne konnte Harriets Interesse wecken. Nachdem er ein paar Augenblicke lang angestrengt nachgedacht hatte, schlug er mit einem wohl berechneten »Hey!«, das aufkommenden Nervenkitzel andeutete, vor, sofort zu ihm nach Hause zu fahren und eine »Bestandsaufnahme der Waffen« vorzunehmen, wie er es nannte (obwohl er wusste, wie viele Waffen er besaß: sein Luftgewehr, ein rostiges Taschenmesser und einen Bumerang, den sie beide nicht werfen konnten). Als er auch damit nur ein Achselzucken hervorrief, machte er (in wilder Verzweiflung, denn ihre Gleichgültigkeit war unerträglich) den Vorschlag, eine von den Good Housekeeping- Zeit-Schriften
seiner Mutter herauszusuchen und Danny Ratliff im »Buch des Monats«- Club anzumelden.
    Daraufhin wandte Harriet ihm das Gesicht zu, doch der Blick, der ihn traf, war alles andere als ermutigend.
    »Aber ich sag’s dir.« Er war ein bisschen verlegen, aber immer noch hinreichend überzeugt von der Buchclub-Taktik, um die Sache weiterzuverfolgen. »Was Schlimmeres kann man auf der ganzen Welt keinem antun. Ein Schüler hat das mal mit Dad gemacht. Wenn wir genug von diesen Rednecks da anmelden, und wenn wir das oft genug machen... Hey, hör mal.« Harriets unerbittlicher Blick entnervte ihn. »Mir ist es egal.« Es war ihm noch frisch in Erinnerung, wie grässlich langweilig es war, den ganzen Tag allein herumzusitzen, und er hätte sich mit Vergnügen ausgezogen und nackt auf die Straße gelegt, wenn sie es von ihm verlangt hätte.
    »Hör mal, ich bin müde«, sagte sie gereizt. »Ich geh jetzt für ’ne Weile rüber zu Libby.«
    »Okay«, sagte Hely nach einer stoischen Pause voller Ratlosigkeit. »Dann bring ich dich hin.«
    Schweigend schoben sie ihre Fahrräder auf dem Feldweg zur Straße. Hely akzeptierte Libbys Vorrangstellung in Harriets Leben, ohne sie ganz zu verstehen. Sie unterschied sich von Edie und den anderen Tanten, sie war gütiger, mütterlicher. Damals im Kindergarten hatte Harriet ihm und den anderen Kindern erzählt, Libby sei ihre Mutter, und seltsamerweise hatte niemand, auch Hely nicht, dies in Frage gestellt. Libby war alt und wohnte in einem anderen Haus als Harriet, aber Libby war es gewesen, die Harriet am ersten Tag an der Hand hereingeführt hatte; sie brachte Kuchen, wenn Harriet Geburtstag hatte, und sie hatte bei den Kostümen für Cinderella geholfen (wo Hely eine hilfreiche Maus gespielt hatte; Harriet war die kleinste – und gemeinste – der Stiefschwestern gewesen). Zwar erschien auch Edie in der Schule, wenn Harriet wegen Prügeleien oder Aufsässigkeit Ärger hatte, aber nie kam jemand auf den Gedanken, sie könnte Harriets Mutter sein: Sie war viel zu streng, fast wie eine der biestigen Algebralehrerinnen an der High School.
    Leider war Libby nicht zu Hause. »Miss Cleve ist auf ’m Friedhof«, sagte eine schlaftrunkene Odean (die ziemlich lange gebraucht hatte, bis sie an der Hintertür erschienen war). »Unkraut jäten auf den Gräbern.«
    »Willst du da hin?«, fragte Hely, als sie wieder auf dem Gehweg standen. »Ich hab nichts dagegen.« Die Fahrt mit dem Rad zum Konföderierten-Friedhof durch die Hitze war schwierig und anstrengend; sie führte quer über den Highway und dann kreuz und quer durch fragwürdige Gegenden mit Tamale-Buden, kleinen griechischen und

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