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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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verfinsterten Mondes leuchtete.
    »Harriet, ich dachte, du wärest die ganze Nacht weg gewesen ...« Klamm und atemlos stand sie da, als wäre sie halb ertrunken.
»Oh, Baby, ich dachte, du wärest entführt oder tot. Mama hat schlecht geträumt, und – o Gott, ich habe dich geschlagen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
    »Komm herein, Mama«, sagte Allison leise. »Bitte.« Es durfte nicht sein, dass die Godfreys oder Mrs. Fountain ihre Mutter weinend und im Nachthemd auf der Veranda stehen sahen.
    »Harriet, komm her. Wie kannst du mir je verzeihen? Mama ist verrückt«, schluchzte sie nass in Harriets Haare. »Es tut mir so Leid ...«
    Harriet fühlte sich in einem unbequemen Winkel an die Brust ihrer Mutter gequetscht, aber es gelang ihr, sich nicht zu winden. Sie erstickte fast. Über ihr, und doch weit entfernt, weinte und hustete ihre Mutter mit gedämpften, keuchenden Geräuschen wie eine Schiffbrüchige, die an den Strand gespült worden war. Der rosa Stoff des Nachthemdes, der sich an Harriets Wange drückte, war so stark vergrößert, dass er gar nicht aussah wie Stoff, sondern wie ein technisches Geflecht aus groben, seildicken Strängen. Es war interessant. Harriet schloss die Augen an der Brust ihrer Mutter. Das Rosa verschwand. Die Augen auf: Da war es wieder. Sie experimentierte mit abwechselndem Blinzeln, und die optische Illusion sprang hin und her, bis eine dicke, ja, ungewöhnlich riesige Träne auf den Stoff tropfte und sich zu einem karmesinroten Fleck ausbreitete.
    Plötzlich packte ihre Mutter sie bei den Schultern. Ihr Gesicht glänzte und roch nach Cold Cream; ihre Augen waren tintenschwarz und fremdartig wie die Augen eines Ammenhais, den Harriet in einem Aquarium an der Golfküste gesehen hatte.
    »Du weißt nicht, wie das ist«, sagte ihre Mutter.
    Und wieder sah Harriet sich an das Nachthemd ihrer Mutter gepresst. Konzentrieren, befahl sie sich. Wenn sie sich angestrengt bemühte, konnte sie woanders sein.
    Ein Parallelogramm aus Licht lag schräg auf der Veranda. Die Haustür stand offen. »Mama?«, hörte sie Allison sagen, von weit her. »Bitte ...«
    Als Harriets Mutter sich endlich bei der Hand nehmen und wieder ins Haus führen ließ, brachte Allison sie behutsam zum Sofa, legte ihr ein Kissen hinter den Kopf und schaltete den Fernseher ein. Das Geplapper war eine unbestreitbare Erleichterung, die fröhliche Musik, die sorglosen Stimmen. Dann wandelte sie hin und her und brachte Kleenex, Kopfschmerzpulver, Zigaretten und einen Aschenbecher, ein Glas Eistee und ein Kühlkissen, das ihre Mutter im Gefrierschrank aufbewahrte. Aus klarem Plastik, blau wie ein Swimmingpool, war es wie eine Harlekin-Halbmaske von Mardi Gras geformt, und ihre Mutter legte es sich auf die Augen, wenn die Nebenhöhlen sie plagten oder wenn sie unter dem litt, was sie »üble Kopfschmerzen« nannte.
    Ihre Mutter akzeptierte Kleenex und Tee aus dem kleinen Füllhorn der Tröstungen und drückte sich bedrückt, unter leisem Gemurmel, das aquamarinblaue Kühlkissen auf die Stirn. »Was müsst ihr von mir denken?... Ich schäme mich so...«
    Die Eismaske entging Harriet nicht; sie saß im Sessel gegenüber und betrachtete ihre Mutter. Sie hatte ein paarmal gesehen, wie ihr Vater morgens, wenn er getrunken hatte, steif an seinem Schreibtisch saß, die blaue Eismaske vor den Kopf gebunden, während er telefonierte oder wütend in seinen Unterlagen blätterte. Aber der Atem ihrer Mutter roch nicht nach Alkohol. Dort draußen auf der Veranda, an die Brust ihrer Mutter gepresst, hatte sie nichts dergleichen wahrgenommen. Ihre Mutter trank auch nicht – nicht so, wie ihr Vater trank. Ab und zu mixte sie sich Coke mit Bourbon, aber dann schleppte sie das Glas den ganzen Abend mit sich herum, bis das Eis geschmolzen und die Papierserviette aufgeweicht war, und am Ende schlief sie ein, ehe sie alles ausgetrunken hatte.
    Allison erschien wieder in der Tür. Sie warf einen Blick auf ihre Mutter, um sich zu vergewissern, dass sie nichts sah, und dann formte sie lautlos mit dem Mund die Worte: Er hat heute Geburtstag.
    Harriet blinzelte. Natürlich – wie hatte sie das vergessen können? Normalerweise war es der Jahrestag seines Todes im
Mai, der diese Dinge bei ihrer Mutter auslöste: Weinkrämpfe, unerklärliche Panikattacken. Vor ein paar Jahren war es so schlimm gewesen, dass sie außerstande gewesen war, das Haus zu verlassen, um bei Allisons Abschlussfeier nach der achten Klasse dabei

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