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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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herunterzurutschen und die beiden zu verheddern –, machten sie nicht einen Augenblick Pause, sondern polterten in verzweifelter Hektik immer weiter.
    Curtis wabbelte mit einem blökenden Aufschrei herum und richtete seine Wasserpistole auf die beiden, als sie die Kiste zur Seite drehten und mit kleinen Schritten zu einem Pick-up beförderten, der in der Einfahrt parkte. Eine zweite Plane war über der Ladefläche des Lasters ausgebreitet. Der ältere und schwerere der beiden Männer (weißes Hemd, schwarze Hose, offene schwarze Weste) schob sie mit dem Ellenbogen beiseite und stemmte dann sein Ende der Kiste über den Rand der Ladefläche.
    »Vorsicht!«, rief der junge Mann mit den wilden Haaren, als die Kiste mit einem massiven Krachen umkippte.
    Der andere, er hatte Harriet noch immer den Rücken zugewandt, wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Sein graues Haar war zu einer öligen Entenschwanzfrisur zurückgekämmt. Zusammen schoben sie die Plane zurecht und gingen wieder die Treppe hinauf.
    Harriet beobachtete diese mysteriöse Plackerei ohne große Neugier. Hely konnte sich stundenlang damit unterhalten, dass er Arbeitern auf der Straße mit offenem Mund zuschaute, und wenn es ihn wirklich interessierte, ging er hin und löcherte sie mit Fragen über Nutzlasten und Arbeitskräfte und Maschinen. All das langweilte Harriet – was sie interessierte, war Curtis. Wenn es stimmte, was Harriet ihr Leben lang gehört hatte, dann waren seine Brüder nicht gut zu ihm. Manchmal erschien Curtis in der Schule mit unheimlichen roten Blutergüssen an Armen und Beinen, in einer Farbe, die Curtis allein eigentümlich war: Preiselbeerrot. Die Leute sagten, er sei einfach zarter, als er aussah, und bekomme leicht Blutergüsse, wie er sich auch leichter erkältete als die anderen Kinder. Manchmal ließen die Lehrer ihn trotzdem Platz nehmen und stellten ihm Fragen über diese Blutergüsse – welche Fragen genau und was Curtis darauf antwortete, das wusste Harriet nicht. Aber unter den Kindern herrschte die unbestimmte, dafür aber weit verbreitete Überzeugung, dass Curtis zu Hause misshandelt wurde. Er hatte keine Eltern, nur seine Brüder und eine tattrige alte Großmutter, die sich darüber beklagte, dass sie zu schwach sei, um für ihn zu sorgen. Im Winter kam er oft ohne Jacke zur Schule, ohne Lunchgeld und ohne Lunch (oder mit irgendeinem ungesunden Lunch, einem Glas Gelee zum Beispiel, das man ihm dann wegnehmen musste). Die chronischen Ausreden der Großmutter für all das riefen bei den Lehrern ungläubige Blicke hervor. Alexandria Academy war schließlich eine Privatschule. Wenn Curtis’ Familie sich die tausend Dollar Schulgeld im Jahr leisten konnte, warum reichte das Geld dann nicht auch für seinen Lunch und eine Jacke?
    Harriet hatte Mitleid mit Curtis – aus der Ferne. So gutmütig er war, seine breiten, unbeholfenen Bewegungen machten die Leute nervös. Kleine Kinder hatten Angst vor ihm, und die Mädchen wollten im Schulbus nicht neben ihm sitzen, weil er versuchte, ihre Gesichter und Kleider und Haare anzufassen. Jetzt hatte er sie zwar noch nicht entdeckt, aber ihr graute schon bei dem Gedanken daran, was dann passieren würde. Beinahe schon aus Gewohnheit starrte sie zu Boden und schämte sich, als sie auf die andere Straßenseite wechselte.
    Wieder schlug die Fliegentür zu, und die beiden Männer trappelten mit einer neuen Kiste die Treppe herunter, als ein langer, schnittiger, perlgrauer Lincoln Continental um die Ecke bog. Mr. Dial, im Profil anzusehen, rauschte majestätisch an Harriet vorbei. Und zu ihrem Erstaunen hielt er in der Einfahrt.
    Als sie die letzte Kiste auf den Laster gehievt und die Plane darübergezogen hatten, stiegen die beiden Männer sichtlich entspannter die Treppe hinauf. Die Wagentür öffnete sich: snick. »Eugene?«, rief Mr. Dial. Er stieg aus und ging dicht an Curtis vorbei, offenbar ohne ihn zu sehen. »Eugene? Eine halbe Sekunde.«
    Der Mann mit dem grauen Entenschwanz blieb wie erstarrt stehen. Als er sich umdrehte, versetzte das verspritzte rote Mal auf seinem Gesicht Harriet einen alptraumartigen Schock. Es sah aus wie ein Handabdruck von roter Farbe.
    »Ich bin wirklich froh, dass ich Sie hier draußen treffe! Es ist ja so schwierig, Sie in die Finger zu bekommen, Eugene«, sagte Mr. Dial und folgte ihnen ungebeten die Treppe hinauf. Dem jungen, drahtigen Mann, dessen Blick nervös hin- und herzuckte, als wolle er die Flucht ergreifen, streckte er

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