Der kleine Freund: Roman (German Edition)
damit Loyal besser sehen konnte. »Da haben sie mit ’m Kathetur reingestochen, genau hier durch, sehen Sie ...?«
»Wann wollt ihr denn heute Abend die Leute erwecken?«, fragte Danny munter. Er hielt sich den Finger ans Nasenloch und richtete sich gerade wieder auf, nachdem auch er eine Dosis Kopfschmerzpulver zu sich genommen hatte.
»Wir sollten fahren«, sagte Eugene zu Loyal. »Komm.«
»Und dann«, fuhr Gum fort, »haben sie diesen Dingsda-Ballon in meine Halsader hier geschoben, und dann ...«
»Gum, er muss jetzt los.«
Gum gackerte und griff mit einer schwarz gesprenkelten Klaue nach dem Ärmel von Loyals weißem Oberhemd. Sie war entzückt, einen so rücksichtsvollen Zuhörer gefunden zu haben, und es widerstrebte ihr, ihn jetzt einfach wieder laufen zu lassen.
Harriet war auf dem Heimweg von Tatty. Die breiten Gehwege waren überschattet von Pekan- und Magnolienbäumen und übersät von zertretenen Blütenblättern der Kreppmyrten. Durch die warme Luft wehte leise das traurige Abendläuten der Ersten Baptistenkirche. Die Gebäude in der Main Street waren prächtiger als die Häuschen im georgianischen Stil
oder im Stil der Zimmermannsgotik; die Baustile, die man hier sah, hießen Greek Revival, Italianate, Second Empire Victorian, allesamt Überbleibsel einer bankrotten Baumwollökonomie. Ein paar Häuser, aber nicht viele, gehörten immer noch den Nachkommen der Familien, die sie erbaut hatten, und einige wenige waren sogar von reichen Leuten von außerhalb gekauft worden. Aber es gab auch Schandflecken in wachsender Zahl, mit Dreirädern im Vorgarten und Wäscheleinen zwischen den dorischen Säulen.
Es dämmerte. Ein Glühwürmchen blinkte auf, unten am Ende der Straße, und dann, praktisch vor ihrer Nase, zwei weitere in rascher Folge: pop pop. Sie wollte nicht nach Hause – noch nicht jedenfalls –, und obwohl die Main Street so weit unten ziemlich verlassen und ein bisschen Furcht einflößend war, beschloss sie, noch ein Stückchen weiter zu gehen, bis hinunter zum Alexandria Hotel. Alle nannten es noch immer Alexandria Hotel, obwohl es schon seit Ewigkeiten kein Hotel mehr war. Während der Gelbfieberepidemie von 1879, als die geplagte Stadt überflutet wurde von kranken und panischen Fremden, die sich von Natchez und New Orlans in den Norden geflüchtet hatten, hatte man die Sterbenden – schreiend, phantasierend, nach Wasser heulend – wie Sardinen auf die Veranda und den Balkon des überfüllten Hotels gepackt, während die Toten haufenweise auf dem Gehweg davor lagen.
Ungefähr alle fünf Jahre versuchte irgendjemand, das Alexandria Hotel wieder aufzumöbeln und ein Textilgeschäft oder ein Versammlungshaus oder irgendetwas anderes darin zu eröffnen, aber solche Bestrebungen waren nie lange von Erfolg gekrönt. Nur an dem Gebäude vorbeizugehen bereitete den Leuten schon Unbehagen. Ein paar Jahre zuvor hatte jemand von außerhalb versucht, in der Lobby einen Tea-Room zu betreiben, aber der war auch schon wieder geschlossen.
Harriet blieb auf dem Gehweg stehen. Dort unten am Ende der leeren Straße ragte das Hotel auf: ein weißes, starräugiges Wrack, verschwommen im Zwielicht. Dann, ganz plötzlich, glaubte sie zu sehen, wie sich in einem der oberen Fenster etwas bewegte – etwas Flatteriges, wie ein Stück Stoff –, und sie
machte kehrt und flüchtete mit hämmerndem Herzen die lange, dunkler werdende Straße hinunter, als schwebe eine ganze Flotte von Gespenstern hinter ihr her.
Sie rannte den ganzen Weg nach Hause, ohne stehen zu bleiben, und polterte durch die Haustür, atemlos und erschöpft und mit tanzenden Flecken vor den Augen. Allison war unten und saß vor dem Fernseher.
»Mutter macht sich Sorgen«, sagte sie. »Geh, und sag ihr, dass du wieder da bist. Ach, und Hely hat angerufen.«
Harriet war halb oben, als ihre Mutter ihr auf der Treppe entgegenstürzte. Ihre Schlafzimmerpantoffeln klatschten laut auf den Stufen. »Wo bist du gewesen? Antworte mir auf der Stelle!« Ihr Gesicht war rot und glänzend, und sie hatte sich ein zerknautsches, altes weißes Oberhemd, das Harriets Vater gehörte, über das Nachthemd geworfen. Sie packte Harriet bei der Schulter und schüttelte sie, und dann stieß sie sie unfassbarerweise gegen die Wand, sodass Harriet mit dem Hinterkopf gegen einen gerahmten Kupferstich der Sängerin Jenny Lind stieß.
»Was ist denn los?«, fragte Harriet vollkommen verständnislos.
»Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?«
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