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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zu sein. Aber in diesem Mai war der Tag ohne Zwischenfall gekommen und gegangen.
    Allison räusperte sich. »Mama, ich lasse dir ein Bad ein«, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam energisch und erwachsen. »Du brauchst nicht hineinzugehen, wenn du nicht willst.«
    Harriet stand auf, um nach oben zu gehen, aber ihre Mutter ließ in einer panischen, blitzschnellen Bewegung den Arm vorschießen, als sei Harriet im Begriff, vor ein Auto zu laufen.
    »Mädchen! Meine beiden lieben Mädchen!« Sie klopfte mit der flachen Hand rechts und links neben sich auf das Sofa, und obwohl ihr Gesicht vom Weinen verschwollen war, irrlichterte in ihrer Stimme schwach, aber fröhlich die Studentin auf dem Porträt im Hausflur.
    »Harriet, warum um alles in der Welt hast du denn nichts gesagt?«, fragte sie. »Hast du dich gut amüsiert mit Tatty? Worüber habt ihr euch unterhalten?«
    Wieder einmal fehlten Harriet im grellen Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit ihrer Mutter die Worte. Aus irgendeinem Grund konnte sie nur an eine Geisterbahn auf der Kirmes denken, in der sie einmal als kleines Mädchen mitgefahren war, mit einem Gespenst, das friedlich im Dunkeln an einer aufgespannten Angelschnur hin- und hergesegelt war und plötzlich, vollkommen unerwartet, seine Bahn verlassen hatte und ihr geradewegs ins Gesicht gesprungen war. Ab und zu fuhr sie noch immer kerzengerade aus tiefem Schlaf hoch, weil die weiße Gestalt ihr aus der Dunkelheit entgegenschoss.
    »Was hast du bei Tatty gemacht?«
    »Schach gespielt.« In der Stille, die darauf folgte, versuchte Harriet, sich irgendeine komische oder unterhaltsame Beobachtung einfallen zu lassen, die sie an diese Antwort anhängen könnte.
    Ihre Mutter legte den Arm um Allison, damit auch sie sich
nicht ausgeschlossen fühlte. »Und warum bist du nicht mitgegangen, Schatz? Hast du denn schon zu Abend gegessen?«
    »Und jetzt zeigen wir Ihnen den ABC-Film der Woche«, verkündete der Fernseher. Als der Vorspann lief, stand Harriet auf und wollte in ihr Zimmer gehen, aber ihre Mutter folgte ihr die Treppe hinauf.
    »Hasst du deine Mutter, weil sie sich so verrückt benimmt?« Verloren stand sie in der offenen Tür zu Harriets Zimmer. »Willst du dir nicht den Film mit uns ansehen? Nur wir drei?«
    »Nein danke«, sagte Harriet höflich. Ihre Mutter starrte auf den Teppich, und ihr Blick, erkannte Harriet, kam dem Teil des Teerflecks gefährlich nahe, der neben dem Bett sichtbar war.
    »Ich ...« In der Stimme ihrer Mutter schien eine Saite zu reißen; hilflos huschte ihr Blick über Allisons Stofftiere und den Bücherstapel auf der Fensterbank neben Harriets Bett. »Du musst mich hassen«, sagte sie mit rostiger Stimme.
    Harriet schaute zu Boden. Sie konnte es nicht ertragen, wenn ihre Mutter so melodramatisch wurde. »Nein, Mama«, sagte sie, »ich will nur diesen Film nicht sehen.«
    »Oh, Harriet. Ich hatte einen so scheußlichen Traum. Und es war so schrecklich, als ich aufwachte und du nicht hier warst. Du weißt, dass deine Mutter dich liebt, nicht wahr, Harriet?«
    Harriet hatte Mühe zu antworten. Sie fühlte sich leicht betäubt, als wäre sie unter Wasser: die langen Schatten, das geisterhaft grünliche Lampenlicht, der Wind, der die Gardinen hereinwehte.
    »Weißt du nicht, dass ich dich liebe?«
    »Doch«, sagte Harriet. Aber ihre Stimme klang dünn, als käme sie aus weiter Ferne, oder als gehörte sie jemand anderem.

KAPITEL 4.
Die Mission.
    Es war komisch, dachte Harriet, dass sie Curtis immer noch nicht hasste, trotz allem, was sie jetzt über seine Familie wusste. Weiter unten an der Straße, da, wo sie ihm das letzte Mal begegnet war, stapfte er plattfüßig und sehr zielstrebig am Randstein entlang. Hin- und herschwankend, die Wasserpistole fest mit beiden Händen umklammert, folgte seine pummelige Gestalt von Kopf bis Fuß der Wiegebewegung.
    An dem heruntergekommenen Haus mit billigen Mietwohnungen fiel eine Fliegentür zu. Zwei Männer erschienen auf der Außentreppe; sie schleppten eine große Kiste, die mit einer Plane bedeckt war. Der Mann, der Harriet zugewandt war, sah sehr jung und sehr unbeholfen aus. Seine Stirn glänzte, seine Haare standen zu Berge, und seine Augen blickten schockiert, als sei er soeben einer Explosion entgangen. Der andere, der rückwärts als Erster herunterkam, stolperte vor lauter Hast beinahe; und obwohl die Kiste schwer und die Treppe schmal und die Plane sehr bedenklich über die Kiste drapiert war – sie drohte jeden Augenblick

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