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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Die Stimme ihrer Mutter klang hoch und eigenartig. »Ich war krank vor Angst, weil ich nicht wusste, wo du warst. Völlig... von... Sinnen ...«
    »Mutter?« Verwirrt wischte sich Harriet mit dem Arm über das Gesicht. Ob sie betrunken war? Manchmal benahm ihr Vater sich so, wenn er an Thanksgiving zu Hause war und zu viel getrunken hatte.
    »Ich dachte schon, du bist tot. Wie kannst du es wagen ...
    »Was ist denn los?« Das Licht der Deckenlampe war grell, und Harriets einziger Gedanke war jetzt, nach oben in ihr Zimmer zu gelangen. »Ich war nur bei Tat.«
    »Unsinn. Sag mir die Wahrheit.«
    »Aber es stimmt«, sagte Harriet ungeduldig und wollte sich an ihrer Mutter vorbeischieben. »Ruf sie doch an, wenn du mir nicht glaubst.«
    »Das werde ich ganz sicher tun, gleich morgen früh. Aber jetzt wirst du mir sagen, wo du gewesen bist.«
    »Na los«, sagte Harriet. Es ärgerte sie, dass ihr der Weg versperrt war. »Ruf sie an .«
    Harriets Mutter machte einen schnellen, erbosten Schritt auf sie zu, und ebenso schnell wich Harriet zwei Stufen zurück. Ihr frustrierter Blick landete auf einem Pastellporträt ihrer Mutter (funkelnde Augen, humorvoll, ein Kamelhaarmantel und ein glänzender Teen-Queen-Pferdeschwanz); es war in Paris auf der Straße gemalt worden, als sie im vorletzten College-Jahr im Ausland gewesen war. Die Augen dieses Porträts, sternenhaft mit ihren übertriebenen Lichtreflexen in weißer Kreide, schienen sich in lebhaftem Mitgefühl für Harriets Dilemma zu weiten.
    »Warum quälst du mich so?«
    Harriet wandte sich von dem Kreideporträt ab und starrte wieder in dasselbe Gesicht – nur war es jetzt viel älter und sah auf unbestimmte Weise unnatürlich aus, als sei es nach einem schrecklichen Unfall wiederhergestellt worden.
    »Warum?«, kreischte ihre Mutter. »Willst du mich in den Wahnsinn treiben?«
    Ein alarmierendes Kribbeln zog sich über Harriets Kopfhaut. Ab und zu benahm ihre sich Mutter merkwürdig, oder sie war verwirrt und aus dem Häuschen, aber nicht so wie jetzt. Es war erst sieben Uhr; im Sommer spielte Harriet oft bis zehn Uhr draußen, und ihre Mutter merkte es nicht einmal.
    Allison stand am Fuße der Treppe und hatte eine Hand auf den tulpenförmigen Knauf des Geländerpfostens gelegt.
    »Allison?«, sagte Harriet ziemlich schroff. »Was ist los mit Mama?«
    Harriets Mutter gab ihr eine Ohrfeige, die zwar nicht wehtat, aber ordentlich knallte. Harriet hielt sich die Wange und starrte ihre Mutter an, die jetzt schnell atmete, in seltsamen, kurzen Stößen.
    »Mama? Was hab ich denn getan?« Sie war zu schockiert, um zu weinen. »Wenn du dir Sorgen gemacht hast, warum hast du dann nicht Hely angerufen?«
    »Ich kann doch wohl nicht so früh am Morgen bei den Hulls anrufen und das ganze Haus wecken!«
    Allison unten an der Treppe sah genauso verdattert aus, wie Harriet sich fühlte. Aus irgendeinem Grund hatte Harriet den Verdacht, dass ihre Schwester der Grund für dieses Missverständnis war, was immer es sein mochte.
    »Du hast was getan!«, schrie sie. »Was hast du ihr erzählt?«
    Aber Allisons Augen waren rund und ungläubig auf ihre Mutter gerichtet. »Mama?«, sagte sie. »Was meinst du mit ›Morgen‹?«
    Charlotte legte eine Hand auf das Geländer. Sie sah bestürzt aus.
    »Es ist Abend . Dienstagabend«, sagte Allison.
    Charlotte stand totenstill da, die Augen weit aufgerissen, der Mund leicht geöffnet. Dann rannte sie die Treppe hinunter und schaute aus dem Fenster neben der Haustür.
    »O mein Gott.« Sie stützte sich mit beiden Händen auf das Fenstersims und beugte sich vor. Sie schob den Riegel auf und trat auf die Veranda hinaus ins Dämmerlicht. Sehr langsam, als ob sie träumte, ging sie zu einem Schaukelstuhl und setzte sich.
    »Du lieber Himmel«, sagte sie, »du hast Recht. Ich bin aufgewacht, und es war sechs Uhr dreißig, und – Gott helfe mir – da dachte ich, es ist sechs Uhr morgens.«
    Eine Zeit lang hörte man keinen Laut außer den Grillen und ein paar Stimmen irgendwo an der Straße. Die Godfreys hatten Besuch; ein fremdes weißes Auto stand in der Einfahrt, und ein Kombiwagen parkte am Randstein vor dem Haus. Im gelblichen Licht auf der hinteren Veranda stiegen Rauchwölkchen vom Grill in die Höhe.
    Charlotte schaute zu Harriet herauf. Ihr Gesicht war von Schweiß benetzt und viel zu weiß, und ihre Pupillen waren so groß und schwarz und alles verschlingend, dass die Iris weggeschrumpft war, eine blaue Corona, die um die Ränder eines

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