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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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erhoben und ihre Haube ausgebreitet hatte, um Brahm zu beschützen, als er schlief.
    Aus dem Haus kam ein gedämpftes Geräusch – eine Tür wurde geschlossen. Harriet blickte auf, und erst jetzt sah sie, dass die Fenster im ersten Stock blank und metallisch glänzten: mit silberner Alufolie verklebt. Während sie noch hinauf starrte (denn es war ein gespenstischer Anblick, in gewisser Weise ebenso beunruhigend wie die Schlangen), drückte Curtis die Fingerspitzen zusammen und schlängelte seinen Arm vor ihrem Gesicht hin und her. Langsam, langsam öffnete er die Hand, eine Bewegung, die aussah, als öffne sich ein Maul. »Monster«, wisperte er und schloss die Hand zweimal wieder: schnapp schnapp. »Beißen.«
    Oben hatte sich die Tür geschlossen. Harriet trat vom Pick-up zurück und lauschte angestrengt. Eine Stimme – gedämpft, aber erfüllt von Missbilligung – hatte soeben eine andere unterbrochen: Mr. Dial war immer noch da oben hinter diesen versilberten Fenstern, und zum ersten Mal im Leben war Harriet froh, seine Stimme zu hören.
    Sofort packte Curtis wieder ihren Arm und wollte sie zur Treppe ziehen. Im ersten Moment war sie zu erschrocken, um zu protestieren, aber dann, als sie sah, wohin er wollte, sträubte sie sich und trat nach ihm und stemmte die Absätze in den Boden. »Nein, Curtis«, schrie sie, »ich will da nicht hin, hör auf, bitte...«
    Sie war im Begriff, ihn in den Arm zu beißen, als ihr Blick auf seinen großen weißen Tennisschuh fiel.
    »Curtis, hey, Curtis, dein Schuh ist offen«, sagte sie.
    Curtis hielt inne und schlug sich die Hand vor den Mond. »Oh, oh!« Verdattert bückte er sich, und Harriet rannte weg, rannte, so schnell sie konnte.

    »Die gehören zur Kirmes«, sagte Hely auf seine aufreizende Art, als wisse er alles, was es darüber zu wissen gab. Er und Harriet waren in seinem Zimmer; die Tür war geschlossen, und sie saßen auf der unteren Koje seines Stockbetts. Fast alles in Helys Zimmer war schwarz oder golden: zu Ehren der »New Orleans Saints«, seiner Lieblings-Footballmannschaft.
    »Das glaube ich nicht.« Harriet kratzte mit dem Daumennagel über den wulstigen Cordstoff der schwarzen Tagesdecke. Ein gedämpfter Bass dröhnte aus der Stereoanlage in Pembertons Zimmer weiter unten am Korridor.
    »Wenn du zum ›Schlangenparadies‹ gehst, da sind Bilder und so Zeugs auf den Gebäuden.«
    »Ja«, sagte Harriet widerstrebend. Sie konnte es nicht in Worte fassen, aber die Kisten, die sie auf der Ladefläche des Trucks gesehen hatte – mit ihren Schädeln und Sternen und Halbmonden, ihren wackligen, fehlerhaft geschrieben Bibelzeilen  –, vermittelten ihr ein ganz anderes Gefühl als das grelle alte Plakat vom »Schlangenparadies«: eine zwinkernde, limonengrüne Schlange, die sich um eine kitschige Frau im zweiteiligen Badeanzug wickelte.
    »Na, wem gehören sie dann?«, fragte Hely. Er sortierte einen Stapel Kaugummibilder. »Müssen doch die Mormonen sein. Die haben da drüben die Zimmer gemietet.«
    »Hmm.« Die Mormonen, die im Erdgeschoss von Mr. Dials Apartmenthaus wohnten, waren ein langweiliges Paar, Außenseiter, ohne richtigen Job.
    »Mein Grandpa sagt, die Mormonen glauben, dass sie einen eigenen kleinen Planeten kriegen, auf dem sie wohnen können, wenn sie sterben«, erzählte Hely. »Und dass sie es okay finden, mehr als eine Frau zu haben.«
    »Die da drüben bei Mr. Dial wohnen, haben überhaupt keine Frau.« Einmal, als sie bei Edie zu Besuch gewesen war, hatten die beiden nachmittags an die Tür geklopft. Edie ließ sie herein und nahm ihre Traktate entgegen; sie bot ihnen sogar Limonade an, nachdem sie Coca-Cola abgelehnt hatten. Und dann sagte sie ihnen, sie seien ja anscheinend ganz nette junge Männer, aber was sie da glaubten, sei ein Haufen Unsinn.
    »Hey, wir rufen Mr. Dial an«, sagte Hely unvermittelt.
    »Yeah, klar.«
    »Ich meine, wir rufen ihn an und tun, als wären wir jemand anders, und dann fragen wir, was da drüben los ist.«
    »Wir tun, als wären wir wer?«
    »Ich weiß nicht ... Willst du das haben?« Er warf ihr einen Sticker zu: ein grünes Monster mit blutunterlaufenen Augen an Stielen, das einen Strandbuggy fuhr. »Den hab ich doppelt.«
    »Nein danke.« Mit den schwarz-goldenen Vorhängen und den Stickern, die dicht an dicht auf den Fensterscheiben klebten, hatte Hely praktisch jeden Sonnenstrahl aus dem Zimmer verbannt. Das Ergebnis war deprimierend, dunkel wie in einem Keller.
    »Er ist ihr Vermieter«, sagte

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