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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Prediger, der tätowierte Arme hatte?
    »Was ist denn?«, fragte er sie. »Du hast Angst vor meinem Gesicht, was?« Seine Stimme klang ganz freundlich, aber dann packte er Harriet ohne Vorwarnung bei den Schultern und reckte ihr sein Gesicht auf eine Weise entgegen, die vermuten ließ, dass sein Gesicht in der Tat etwas sei, wovor man große Angst haben sollte.
    Harriet erstarrte – nicht so sehr wegen der Verätzung (rot glänzend, mit dem fibrösen, blutigen Schimmer von rohem Bindegewebe), als vielmehr wegen seiner Hände auf ihren Schultern. Unter einem glatten, wimpernlosen Augenlid funkelte das Auge des Predigers farbig wie ein blauer Glassplitter. Abrupt zuckte seine gewölbte Hand vor, als wolle er sie ohrfeigen, aber als sie zurückzuckte, leuchteten seine Augen auf: »Oh, oh, oh!«, sagte er triumphierend. Mit einer zarten Berührung, die sie rasend machte, streichelte sein Fingerknöchel ihre Wange, und dann erschien in seiner Hand vor ihrem Gesicht ganz unerwartet ein krummer Streifen Kaugummi, den er zwischen Zeige- und Mittelfinger kreisen ließ.
    »Hast jetzt nicht mehr viel zu sagen, was?« Das war Danny. »Da oben hast du vorhin noch ziemlich viel zu quatschen gehabt.«
    Harriet starrte interessiert auf seine Hände. Sie waren knochig
und jungenhaft, aber sie trugen auch tiefe Narben, und die abgekauten Fingernägel hatten schwarze Ränder. Auf den Fingern steckten große, hässliche Ringe (ein silberner Schädel, ein Motorrademblem), wie ein Rockstar sie vielleicht tragen würde.
    »Wer immer das getan hat, ist wirklich mächtig schnell weggerannt.«
    Harriet schaute zu seinem Profil hinauf. Es war schwer zu sagen, was er dachte. Er schaute die Straße hinauf und hinunter, und sein Blick huschte auf eine schnelle, hektische, misstrauische Art hin und her – wie bei einem Schulhoftyrannen, der sicher sein wollte, dass der Lehrer nicht hersah, bevor er ausholte und jemanden boxte.
    »Haben?«, fragte der Prediger und ließ den Kaugummistreifen vor ihr hin – und herpendeln.
    »Nein, danke«, sagte Harriet und bereute es, kaum dass sie es ausgesprochen hatte.
    »Was zum Teufel machst du hier draußen?«, wollte Danny Ratliff plötzlich wissen und fuhr herum, als habe sie ihn beleidigt. »Wie heißt du?«
    »Mary«, flüsterte Harriet. Ihr Herz klopfte. Nein, danke, na toll. So schmutzig sie war (Blätter im Haar, Dreck an Armen und Beinen) – wer würde schon glauben, dass sie ein kleiner Redneck war? Niemand. Und Rednecks zu allerletzt.
    »Huh!« Danny Ratliffs schrilles Kichern war durchdringend und bestürzend. »Ich hör dich nicht.« Er sprach schnell, aber er bewegte dabei kaum die Lippen. »Lauter.«
    »Mary.«
    »Mary?« Seine Stiefel waren groß und Furcht erregend mit ihren vielen Schnallen. »Mary wie? Zu wem gehörst du?«
    Ein leichter Wind, der frösteln machte, wehte durch die Bäume. Laubschatten bebten und wellten über den Asphalt.
    »John – Johnson«, sagte Harriet kläglich. Herrgott, dachte sie, fällt mir nichts Besseres ein?
    »Johnson?«, wiederholte der Prediger. »Welcher Johnson?«
    »Komisch, für mich siehst du aus wie eine von Odums
Gören.« Dannys Kiefermuskeln arbeiteten verstohlen auf der linken Seite, wo er sich innen auf die Wange biss. »Wieso bist du ganz allein hier? Hab ich dich nicht draußen bei der Pool Hall gesehen?«
    »Mama...« Harriet schluckte und beschloss, noch einmal von vorn anzufangen. »Mama, sie sagt...«
    Danny Ratliff sah sie an, beäugte die teuren neuen Camp-Mokassins, die Edie ihr bei L.L. Bean bestellt hatte.
    »Mama sagt, ich darf da nich hin«, behauptete sie in kleinlautem Ton.
    »Wer ist deine Mama?«
    »Odums Frau ist verstorben«, sagte der Prediger und faltete affektiert die Hände.
    »Ich frag nicht dich, ich frag sie.« Danny nagte an der Ecke seines Daumennagels und starrte Harriet auf eine versteinerte Weise an, die ihr neues Unbehagen bereitete. »Guck dir ihre Augen an, Gene«, sagte er zu seinem Bruder und warf nervös den Kopf in den Nacken.
    Freundlich beugte der Prediger sich herunter und spähte ihr ins Gesicht. »Na, verdammt, die sind aber grün. Woher hast du denn grüne Augen?«
    »Guck doch, wie sie mich anstarrt!«, sagte Danny schrill. »Wie sie starrt. Was ist los mit dir, Mädchen?«
    Der Chihuahua kläffte immer noch. Harriet hörte in weiter Ferne etwas wie eine Polizeisirene. Die beiden Männer hörten sie auch und strafften sich. Aber in diesem Augenblick ertönte oben ein grässlicher Schrei.
    Danny

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