Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Kratzen, Beißen: Nichts davon war der Wut angemessen, die in Harriet aufloderte. Sie starrte das entspannte Gesicht ihrer Mutter an. Friedlich hob sich ihre Brust, friedlich senkte sich ihre Brust. Feuchtigkeit glitzerte an ihrer Oberlippe, wo der korallenrote Lippenstift verblasst und fedrig in die feinen Fältchen hineingekrochen war. Ihre Lider glänzten ölig und sahen wund aus, und an den inneren Augenwinkeln waren tiefe Mulden wie von Daumenabdrücken.
Harriet ließ Allison am Bett ihrer Mutter zurück und ging, mit der Hand auf das Geländer klatschend, nach unten. Ida saß immer noch in ihrem Sessel und starrte aus dem Fenster. Sie hatte die Wange in die Handfläche gestützt, und als Harriet in der Tür stehen blieb und sie betrübt anschaute, schien Ida hell erleuchtet und klar auf unbarmherzige Art und Weise aus ihrer Umgebung hervorzustechen. Nie hatte sie so zuverlässig
ausgesehen, so unzerstörbar und robust und so wunderbar massiv. Die Brust unter dem dünnen grauen Bamwollstoff ihres verblichenen Kleides wogte machtvoll, während sie atmete. Harriet wollte zu ihr gehen, aber da wandte Ida den Kopf – noch immer glitzerten die Tränen auf ihren Wangen – und warf ihr einen Blick zu, der sie wie angewurzelt stehen bleiben ließ.
Lange starrten die beiden einander an. Die beiden hatten Anstarrwettkämpfe ausgetragen, seit Harriet klein war – ein Spiel, eine Prüfung der Willenskraft, etwas zum Lachen – aber diesmal war es kein Spiel. Alles war falsch und schrecklich, und niemand lachte, als Harriet schließlich gezwungen war, beschämt den Blick zu senken. Schweigend, denn es gab sonst nichts mehr zu tun, ließ Harriet den Kopf hängen und ging hinaus, und die geliebten, kummervollen Augen brannten ihr im Rücken.
»Was ist los?«, fragte Hely, als er Harriets dumpf benommenen Gesichtsausdruck sah. Er hatte sie mit Vorwürfen überschütten wollen, weil sie so lange gebraucht hatte, aber als er ihre Miene sah, war er sicher, dass sie beide in großen, großen Schwierigkeiten waren – in den schlimmsten ihres Lebens.
»Mutter will Ida rauschmeißen.«
»Übel«, sagte Hely entgegenkommend.
Harriet schaute zu Boden und versuchte, sich zu erinnern, wie ihr Gesicht funktionierte und ihre Stimme klang, wenn alles okay war.
»Lass uns die Räder später holen«, sagte sie und fasste neuen Mut, als sie hörte, wie gelassen ihre Stimme aus ihrem Mund kam.
»Nein! Mein Dad bringt mich um!«
»Sag ihm, du hast es hier gelassen.«
»Ich kann es nicht einfach da draußen liegen lassen. Jemand wird es klauen... Hey, du hast gesagt, du kommst mit«, sagte Hely verzweifelt. »Geh einfach mit mir hin...«
»Okay. Aber vorher musst du mir versprechen ...«
»Harriet, bitte. Ich hab den ganzen Schrott für dich aufgeräumt.«
»Du musst mir versprechen, dass du heute Abend noch mal mit mir hingehst. Die Kiste holen.«
»Wo willst du sie denn hinbringen?«, fragte Hely verdutzt. »Bei mir zu Hause können wir sie nicht verstecken.«
Harriet hielt beide Hände in die Höhe: keine gekreuzten Finger.
»Okay«, sagte Hely und hielt ebenfalls beide Hände hoch. Es war ihre private Zeichensprache, so bindend wie ein laut ausgesprochenes Versprechen. Dann wandte er sich ab und ging mit schnellem Schritt los, durch den Garten und zur Straße, und Harriet folgte ihm.
Sie hielten sich dicht bei den Büschen und duckten sich hinter Bäume, und so waren sie bis auf etwa zehn Meter an das Mormonenhaus herangekommen, als Hely plötzlich Harriets Handgelenk ergriff und den Zeigefinger ausstreckte. Auf dem Mittelstreifen blitzte eine lange, dünne Chromspeiche unter den sperrigen Zweigen des Zimterlenbuschs hervor.
Vorsichtig schlichen sie sich näher. Die Einfahrt war leer. Nebenan, vor dem Haus, das dem Hund Pancho und seinem Frauchen gehörte, parkte ein weißer Wagen der County-Verwaltung, den Harriet als das Auto von Mrs. Dorrier erkannte. Jeden Donnerstagnachmittag um Viertel vor vier rollte Mrs. Dorriers weißes Auto langsam vor Libbys Haus, und dann stieg Mrs. Dorrier in der blauen Uniform des Gesundheitsdienstes aus, um Libbys Blutdruck zu messen. Sie pumpte die Manschette an Libbys vogelknochigem Arm straff auf und zählte die Sekunden an ihrer großen, maskulinen Armbanduhr, während Libby, die durch alles, was auch nur entfernt mit Medizin oder Krankheit oder Ärzten zu tun hatte, in unsagbare Bedrängnis gestürzt wurde, dasaß und zur Decke starrte, die Augen hinter den Brillengläsern mit
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