Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Tränen gefüllt, die Hand auf die Brust gedrückt, mit bebenden Lippen.
»Los, komm jetzt«, sagte Hely und warf einen Blick über die Schulter.
Harriet deutete mit dem Kopf auf den weißen Wagen. »Die Krankenschwester ist da drüben«, flüsterte sie. »Warte, bis sie weg ist.«
Sie warteten hinter einem Baum. Nach zwei Minuten quengelte Hely: »Was dauert denn da so lange?«
»Keine Ahnung«, sagte Harriet, die sich das auch fragte. Mrs. Dorrier hatte Patienten im ganzen County, und bei Libby war sie immer wie der Blitz drin und wieder draußen und blieb nie auf einen Schwatz oder eine Tasse Kaffee.
»Ich warte hier nicht den ganzen Tag«, flüsterte Hely, aber da ging auf der anderen Seite die Fliegentür auf, und heraus kam Mrs. Dorrie mit ihrer weißen Haube und der blauen Uniform. Ihr folgte die sonnengedörrte Yankee-Frau in schmutzigen Schlappen und einem papageiengrünen Hauskleid, und Pancho hing über ihrem Arm. »Zwei Dollar pro Pille!«, quakte sie. »Ich nehme täglich Medizin für vierzehn Dollar! Ich hab zu dem Jungen unten in der Apotheke gesagt...«
»Medizin ist teuer«, sagte Mrs. Dorrier höflich und wandte sich zum Gehen. Sie war groß und dünn und ungefähr fünfzig Jahre alt; sie hatte eine graue Strähne in ihrem schwarzen Haar und eine sehr korrekte Haltung.
»Ich sag: ›Söhnchen, ich hab Emphysem! Ich hab Gallensteine! Ich hab Arthritis! Ich‹ – was willst du denn, Pancho?«, fragte sie ihren Hund, der sich in ihrem Griff versteift hatte und die Riesenohren waagerecht vom Kopf abspreizte. Obwohl Harriet sich hinter dem Baum versteckt hielt, schien er sie zu sehen und aus seinen Lemurenaugen anzustarren. Er fletschte die Zähne, und dann fing er wie tollwütig an zu kläffen und zu zappeln, um sich zu entwinden.
Die Frau gab ihm mit der flachen Hand einen Klaps auf den Kopf. »Halt die Klappe!«
Mrs. Dorrier lachte unbehaglich, hob ihre Tasche auf und wollte die Treppe hinuntergehen. »Bis nächsten Dienstag dann.«
»Er ist ganz aus’m Häuschen«, rief die Frau, die immer noch
mit Pancho rang. »Gestern Abend hatten wir hier einen Spanner. Und nebenan ist die Polizei gekommen.«
»Was für ein Tag!« Mrs. Dorrier blieb an ihrem Wagen stehen. »Das ist nicht Ihr Ernst!«
Pancho kläffte immer noch wie wild. Während Mrs. Dorrier einstieg und langsam davonrollte, gab die Frau, die inzwischen auf dem Gehweg stand, ihm noch einen Klaps, und dann trug sie ihn ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Hely und Harriet ließen atemlos noch ein paar Augenblicke verstreichen, und als sie sich vergewissert hatten, dass kein Auto kam, rannten sie über die Straße zum grasbewachsenen Mittelstreifen und ließen sich bei den Fahrrädern auf die Knie fallen.
Harriet deutete mit dem Kopf auf die Zufahrt des Holzhauses. »Da ist niemand zu Hause.« Der Stein in ihrer Brust war ein wenig leichter geworden, und sie fühlte sich jetzt unbeschwerter, kühl und flink.
Grunzend riss Hely sein Rad aus dem Busch.
»Ich muss die Schlange da unten rausholen.«
Bei ihrem schroffen Ton bekam er plötzlich Mitleid mit ihr, ohne zu verstehen, warum. Er richtete sein Fahrrad auf. Harriet saß auf ihrem eigenen und funkelte ihn an.
»Wir kommen noch mal her«, versprach er und wich ihrem Blick aus. Er sprang auf sein Rad, und sie stießen sich ab und glitten zusammen die Straße hinunter.
Harriet überholte ihn aggressiv und schnitt ihm an der Ecke den Weg ab. Sie benahm sich, als hätte sie soeben Mordsprügel bezogen, fand er, als er ihr nachschaute, wie sie tief über den Lenker geduckt wütend in die Pedale trat, wie Dennis Peet oder Tommy Scoggs, niederträchtige Kids, die kleinere Kinder verprügelten und von größeren verprügelt wurden. Vielleicht lag es daran, dass sie ein Mädchen war, aber wenn Harriet diese wüste Draufgängerlaune hatte, versetzte ihn das in Erregung. Der Gedanke an die Kobra erregte ihn auch; ihm war zwar nicht wohl bei der Aussicht darauf – noch nicht, jedenfalls –, Harriet zu erklären, dass er ein halbes Dutzend Klapperschlangen in der Wohnung freigelassen hatte, aber
plötzlich begriff er, dass das Holzhaus leer war und es vielleicht eine ganze Weile bleiben würde.
»Was glaubst du, wie oft sie frisst?«, fragte Harriet. Sie war hinten über die Karre gebeugt und schob, während Hely vorne zog, nicht sehr schnell, denn es war fast so dunkel, dass man nichts mehr sehen konnte. »Vielleicht sollten wir ihr einen Frosch geben.«
Hely wuchtete die
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