Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
ein paar Jahren hatte hier ein entflohener Trupp Kettensträflinge Zuflucht gefunden. Noch nie waren sie in diesem Ödland einer Menschenseele begegnet – nur einmal einem winzigen schwarzen Jungen in roter Unterhose, der in die Knie gegangen war und mit der Rückhand einen Stein nach ihnen geschleudert hatte, ehe er quiekend im Unterholz verschwunden war. Es war ein einsamer Fleck, und weder Harriet noch Hely spielte gern hier, auch wenn sie es beide nie zugegeben hätten.
    Die Karrenräder knirschten laut auf dem Kies. Wolken von Mücken, die sich von den Dünsten des Insektensprays, mit dem sie sich beide von Kopf bis Fuß eingesprüht hatten, nicht beeindrucken ließen, umtanzten sie auf der dumpfigen, luftlosen Lichtung. Im Dämmerschatten konnten sie gerade noch sehen, was vor ihnen war. Hely hatte zwar eine Taschenlampe mitgebracht, aber jetzt, da sie hier waren, kam ihnen die Idee, überall herumzuleuchten, nicht mehr so gut vor.
    Je weiter sie gingen, desto schmaler wurde der Pfad. Er erstickte unter dem Gestrüpp, das von beiden Seiten wie Mauern herandrängte, und sie kamen mit ihrer Karre nur sehr langsam voran und mussten manchmal anhalten, um im dichten blauen Zwielicht Äste und Zweige vor ihren Gesichtern beiseite zu schieben. »Puh!«, sagte Hely vorn, und als sie weiterrollten,
wurde das Summen der Fliegen lauter, und ein feuchter, fauliger Geruch schlug Harriet ins Gesicht.
    »Igitt!«, hörte sie Hely sagen.
    »Was denn?« Es war jetzt so dunkel, dass sie kaum mehr als die breiten weißen Streifen auf dem Rücken von Helys Rugbyhemd sehen konnte. Der Kies knirschte, als Hely den Wagen vorn anhob und scharf nach links wuchtete.
    »Was ist das?« Der Gestank war unglaublich.
    »Ein Opossum.«
    Ein dunkler Klumpen, wimmelnd von Fliegen, lag formlos zusammengekrümmt auf den Pfad. Harriet wandte sich ab, als sie sich daran vorbeischoben.
    Sie plagten sich weiter, bis das metallische Summen der Fliegen verklungen war und auch der Gestank hinter ihnen lag, erst dann blieben sie stehen, um sich kurz auszuruhen. Harriet knipste die Taschenlampe an und hob mit Daumen und Zeigefinger eine Ecke des Strandlakens hoch. Im Lichtstrahl glitzerten die kleinen Augen der Kobra sie bösartig an, als sie das Maul öffnete, um sie anzuzischen. Der offene Spalt sah aus wie ein schreckliches Lächeln.
    »Wie geht’s ihr?«, fragte Hely in schroffem Ton und stützte die Hände auf die Knie.
    »Gut«, sagte Harriet – und machte einen Satz rückwärts (sodass der Lichtkreis irr durch die Baumwipfel geisterte), als die Schlange gegen das Gitter zuckte.
    »Was war das?«
    »Nichts weiter«, sagte Harriet. Sie schaltete die Taschenlampe aus. »Es macht ihr anscheinend gar nicht viel aus, in der Kiste zu sein.« Ihre Stimme klang sehr laut durch die Stille. »Wahrscheinlich war sie ihr ganzes Leben lang drin. Man kann sie ja auch schlecht rauslassen, damit sie ein bisschen rumkriechen kann, nicht wahr?«
    Sie schwiegen ein paar Augenblicke und setzten sich dann widerstrebend in Bewegung.
    »Ich schätze, die Hitze macht ihr auch nichts«, sagte Harriet. »Sie ist aus Indien. Da ist es heißer als hier.«
    Hely achtete sorgfältig darauf, wo er hintrat, jedenfalls so
sorgfältig, wie das im Dunkeln möglich war. In den Schwarzkiefern zu beiden Seiten schrillte der Chorgesang der Baumfrösche hin und her, und ihr Lied pulsierte stereophonisch zwischen dem linken und dem rechten Ohr, dass einem schwindlig wurde.
    Der Pfad mündete in eine Lichtung, wo der Baumwollschuppen stand, knochengrau im Mondlicht. Die Nischen an der Laderampe, wo sie so viele Nachmittage gesessen, mit den Beinen gebaumelt und sich unterhalten hatten, wirkten fremdartig im tiefen Schatten, aber die runden Schlammflecken auf den mondlichtüberfluteten Türen, die sie mit den Tennisbällen gemacht hatten, waren deutlich zu sehen.
    Zusammen bugsierten sie die Karre durch einen Graben. Das Schlimmste hatten sie jetzt hinter sich. Mit dem Fahrrad brauchte man von Helys Haus bis zur Country Line Road eine Dreiviertelstunde, aber der Weg hinter dem Lagerschuppen war eine Abkürzung. Gleich dahinter lagen die Bahngleise, und dann – vielleicht eine Minute später – stieß der Pfad wie durch Zauberei auf die County Line Road, gleich hinter dem Highway 5.
    Hinter dem Schuppen konnten sie die Gleise erkennen. Telegrafenmasten, von dichtem Geißblatt umwuchert, ragten schwarz vor einem gespenstisch violetten Himmel empor. Hely drehte sich um und sah im

Weitere Kostenlose Bücher