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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Karton und machte sich dann ans Jäten, zähneknirschend vor Widerwillen. Gemüsepflanzen, die gerade kein Gemüse trugen, sahen für Harriet aus wie ausgewuchertes Unkraut mit ihrer Gewohnheit, sich auszubreiten, und mit ihren rauen, plumpen Blättern. Deshalb ließ sie alles stehen, was sie nicht genau kannte, und riss nur Unkraut aus, bei dem sie sich sicher war: Klee und Löwenzahn (klar) und die langen Halme der Mohrenhirse, die Ida auf eine trickreiche Weise falten konnte, sodass ein schriller, unirdischer Pfiff zustande kam, wenn sie sie zwischen die Lippen klemmte und auf eine bestimmte Art blies.
    Aber die Halme waren scharf, und es dauerte nicht lange, bis einer einen roten Strich über ihren Daumenballen gezogen hatte, als habe sie sich an Papier geschnitten. Harriet richtete sich schwitzend auf ihren staubigen Absätzen auf. Sie hatte ein Paar Gartenhandschuhe aus rotem Stoff in Kindergröße, die Ida Rhew ihr im letzten Sommer im Haushaltswarengeschäft gekauft hatte, und ihr war furchtbar zumute, wenn sie nur daran dachte. Ida hatte nicht viel Geld, sicher nicht genug, um es für Geschenke auszugeben, und was noch schlimmer war: Harriet konnte den Garten so wenig ausstehen, dass sie sie nie angezogen hatte, nicht ein einziges Mal. Gefallen dir die kleinen Handschuhe nicht, die ich dir geschenkt hab?, hatte Ida sie eines Nachmittags ziemlich betrübt gefragt, als sie zusammen auf der Veranda gesessen hatten. Auf Harriets Beteuerungen hin hatte sie nur den Kopf geschüttelt.
    Doch, sie gefallen mir, wirklich. Ich trag sie beim Spielen im  ...
    Du brauchst mir keine Geschichte zu erzählen, Baby. Ich bin bloß traurig, weil dir nichts dran liegt.
    Harriets Gesicht glühte rot. Die roten Handschuhe hatten drei Dollar gekostet, und dafür musste die arme Ida fast einen ganzen Tag arbeiten. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass die roten Handschuhe das Einzige waren, was Ida ihr je geschenkt hatte. Und sie hatte sie verloren! Wie konnte sie so achtlos sein? Im Winter hatten sie lange Zeit unbeachtet in einer Zinkwanne im Werkzeugschuppen gelegen,
mit der Baumschere und der Heckenschere und anderem Werkzeug, das Chester gehörte.
    Sie vergaß das Jäten, ließ die ausgerissenen Schösslinge kreuz und quer verstreut auf der Erde liegen und lief zum Werkzeugschuppen. Aber die Handschuhe waren nicht mehr in der Zinkwanne. Sie waren auch nicht auf Chesters Werkbank. Sie lagen nicht auf dem Regal zwischen Blumentöpfen und Dünger und nicht hinter den verkrusteten Büchsen mit Lack und Terpentin und Wandfarbe.
    Auf den Regalen fand sie Federballschläger, Baumschere und Handsäge, zahllose Verlängerungskabel, einen gelben Plastikschutzhelm für Bauarbeiter und Gartenwerkzeug aller Art: Beile, Rosenscheren, eine Unkrauthacke, einen Grubber, Pflanzenheber in drei verschiedenen Größen und Chesters eigene Handschuhe. Aber nicht die Handschuhe, die Ida ihr geschenkt hatte. Harriet spürte, dass sie hysterisch wurde. Chester weiß, wo sie sind , dachte sie. Ich werde ihn fragen . Chester kam nur montags; an den anderen Tagen arbeitete er entweder für die County-Verwaltung – dann jätete er Unkraut und mähte den Rasen auf dem Friedhof – oder hatte irgendwelche Gelegenheitsjobs in der Stadt.
    Sie stand schwer atmend im staubigen, nach Benzin riechenden Halbdunkel, starrte in das Werkzeugdurcheinander auf dem ölfleckigen Boden und überlegte, wo sie als Nächstes suchen sollte, denn sie musste die roten Handschuhe finden. Ich muss, dachte sie, und ihr Blick huschte über die Unordnung. Ich werde sterben, wenn ich sie verloren habe .
    In diesem Augenblick kam Hely angerannt und streckte den Kopf zur Tür herein. »Harriet!«, keuchte er und klammerte sich am Türrahmen fest. »Wir müssen die Räder holen!«
    »Die Räder?« wiederholte Harriet verwirrt.
    »Die sind noch da! Mein Dad hat gemerkt, dass meins weg ist, und er wird mir den Arsch versohlen, wenn ich es verloren hab! Komm schon!«
    Harriet versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf die Fahrräder zu richten, aber sie konnte an nichts anderes denken als an die Handschuhe. »Ich gehe später«, sagte sie schließlich.
    »Nein! Jetzt sofort! Ich geh da nicht allein hin!«
    »Na, dann warte ein bisschen, und dann...«
    »Nein!«, heulte Hely. »Wir müssen sofort los!«
    »Hör mal, ich muss ins Haus gehen und mir die Hände waschen. Leg diesen ganzen Schrott wieder auf das Regal, ja?«
    Hely starrte den Wirrwarr auf dem Boden an.

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