Der kleine Freund: Roman (German Edition)
»Alles?«
»Erinnerst du dich an ein Paar rote Handschuhe, die ich mal hatte? Sie waren immer in der Wanne da.«
Hely schaute sie furchtsam an, als wäre sie verrückt geworden.
»Gartenhandschuhe. Aus rotem Stoff, mit Gummibündchen.«
»Harriet, es ist mein Ernst. Die Fahrräder haben die ganze Nacht da draußen gelegen. Vielleicht sind sie gar nicht mehr da.«
»Wenn du sie findest, sag Bescheid, okay?«
Sie lief zurück zum Gemüsebeet und warf das Unkraut, das sie herausgezogen hatte, auf einen großen, unordentlichen Haufen. Nicht so wichtig, dachte sie, ich räum’s später weg ... Dann hob sie den Karton mit dem Gemüse auf und lief ins Haus.
Ida war nicht in der Küche. Schnell und ohne Seife wusch Harriet sich an der Spüle die Erde von den Händen. Dann ging sie mit ihrem Karton ins Wohnzimmer, wo Ida in ihrem Tweedsessel saß, die Knie gespreizt, den Kopf auf die Hände gestützt.
»Ida?«, sagte Harriet schüchtern.
Steif drehte Ida Rhew den Kopf herum. Ihre Augen waren immer noch rot.
»Ich... ich hab dir was mitgebracht«, stammelte Harriet. Sie stellte den Pappkarton vor Ida auf den Boden.
Dumpf starrte Ida auf das Gemüse hinunter. »Was mach ich jetzt?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Wo soll ich denn hin?«
»Du kannst es mit nach Hause nehmen, wenn du willst«, sagte Harriet hilflos. Sie hob die Aubergine auf, um sie Ida zu zeigen.
»Deine Mama sagt, ich arbeite nicht gut. Wie soll ich denn
gut arbeiten, wenn sie Zeitungen und Müll bis unter die Decke stapelt?« Ida griff nach der Ecke ihrer Schürze und wischte sich damit über die Augen. »Sie bezahlt mir bloß zwanzig Dollar die Woche. Ist auch nicht richtig. Odean bei Miss Libby drüben kriegt fünfunddreißig, und die muss sich weder mit so ’nem Durcheinander noch mit zwei Kindern rumplagen.«
Harriets Hände baumelten nutzlos herab. Sie sehnte sich danach, Ida zu umarmen, sie auf die Wange zu küssen, ihr auf den Schoß zu fallen und in Tränen auszubrechen, aber irgendetwas in Idas Stimme und der angespannten, unnatürlichen Art, wie sie dasaß, bewirkte, dass sie nicht wagte, näher zu kommen.
»Deine Mama sagt – sie sagt, ihr seid jetzt groß und braucht nicht mehr versorgt zu werden. Ihr geht beide in die Schule. Und nach der Schule könnt ihr selber für euch sorgen.«
Ihre Blicke trafen sich – Idas Augen rot und tränenfeucht, Harriets Augen groß und rund vor Entsetzen – und verharrten einen Moment lang beieinander, einen Moment, den Harriet bis an ihr Lebensende nicht vergessen würde. Ida schaute als Erste weg.
»Und sie hat ja Recht«, sagte sie. »Allison ist auf der High School, und du – du brauchst auch niemanden mehr, der den ganzen Tag im Haus bleibt und auf dich aufpasst. Die meiste Zeit des Jahres bist du sowieso in der Schule.«
»Ich gehe seit sieben Jahre zur Schule!«
»Na, aber das ist es, was sie mir sagt.«
Harriet stürmte die Treppe hinauf zum Zimmer ihrer Mutter und rannte hinein, ohne anzuklopfen. Ihre Mutter saß auf der Bettkante, und Allison kniete davor, drückte das Gesicht in die Tagesdecke und weinte. Als Harriet hereinkam, hob sie den Kopf und schaute Harriet mit geschwollenen Augen so schmerzerfüllt an, dass es ihr die Sprache verschlug.
»Nicht du auch noch«, sagte ihre Mutter undeutlich, mit schläfrigem Blick. »Lasst mich in Ruhe, Kinder. Ich möchte mich einen Augenblick hinlegen ...«
»Du darfst Ida nicht rauswerfen.«
»Ich habe Ida auch gern, Kinder, aber sie arbeitet nicht umsonst,
und in letzter Zeit kommt sie mir unzufrieden vor.« Das waren genau die Worte von Harriets Vater, und sie sprach langsam und mechanisch, als ob sie eine auswendig gelernte Rede hersagte.
»Du darfst sie nicht rauswerfen«, wiederholte Harriet schrill.
»Euer Vater sagt ...«
»Na und? Er wohnt nicht hier.«
»Kinder, dann müsst ihr selbst mit ihr reden. Ida ist mit mir einer Meinung, dass keiner von uns glücklich darüber ist, wie es in letzter Zeit hier zugeht.«
Eine lange Pause trat ein.
»Warum hast du Ida gesagt, ich hätte sie angeschwärzt?«, fragte Harriet. »Was hast du zu ihr gesagt?«
»Darüber reden wir später.« Charlotte drehte sich um und legte sich auf das Bett.
»Nein! Jetzt! «
»Mach dir keine Sorgen, Harriet«, Charlotte schloss die Augen. »Und weine nicht, Allison, bitte nicht, ich kann das nicht ertragen.« Sie sprach stockend, und ihre Stimme verlor sich. »Es wird sich alles finden. Ich verspreche euch...«
Kreischen, Spucken,
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