Der kleine Freund: Roman (German Edition)
um.
»Ich hab mir Folgendes gedacht.« Er hatte überhaupt nichts gedacht, aber er fühlte sich genötigt, etwas zu sagen, um das Gesicht zu wahren. »Ich dachte mir... Dieser TransAm hat ein T-Top. Ein Dach, das man aufmachen kann«, fügte er hinzu, als er Harriets verständnislosen Blick sah. »Und ich wette eine Million Dollar, dass er die County Line Road nehmen muss, um nach Hause zu fahren. Alle diese Hinterwäldler wohnen da draußen hinter dem Fluss.«
»Er wohnt da«, sagte Harriet. »Ich hab im Telefonbuch nachgesehen.«
»Na super. Weil die Schlange ja schon auf der Brücke ist.«
Harriet verzog verächtlich das Gesicht.
»Jetzt komm schon«, sagte Hely. »Hast du nicht neulich die Nachrichten gesehen, mit den Kids in Memphis, die von der Brücke Steine auf die Autos geschmissen haben?«
Harriet zog die Brauen zusammen. Bei ihr zu Hause sah sich niemand die Nachrichten an.
»Das war’ne Riesenstory. Zwei Tote. Ein Mann von der Polizei trat auf und sagte, man soll die Fahrspur wechseln, wenn man Kids sieht, die von der Brücke gucken. Jetzt komm schon.« Hoffnungsvoll trat er mit der Turnschuhspitze gegen ihren Fuß. »Du hast doch nichts vor. Lass uns wenigstens nach der Schlange sehen. Ich möchte sie noch mal sehen – du nicht? Wo ist dein Rad?«
»Ich bin zu Fuß hier.«
»Auch okay. Hops auf die Lenkstange. Ich fahr dich raus, wenn du mich zurückfährst.«
Leben ohne Ida. Wenn Ida gar nicht existierte, dachte Harriet – sie saß im Schneidersitz auf der sonnengebleichten Straßenüberführung –, dann ginge es mir jetzt nicht so schlecht. Ich brauche nur so zu tun, als hätte ich sie nie gekannt. Ganz einfach.
Denn das Haus selbst würde sich nicht verändern, wenn Ida ginge. Die Spuren ihrer Anwesenheit waren nie besonders ausgeprägt gewesen. In der Speisekammer stand die Flasche mit dunklem Karo-Sirup, den sie sich auf ihr Brötchen goss. Da war der rote Plastikbecher, den sie im Sommer morgens immer mit Eis füllte und dann mit sich herumtrug, um im Laufe des Tages daraus zu trinken. (Harriets Eltern hatten es nicht gern, wenn Ida aus den normalen Küchengläsern trank; Harriet schämte sich, wenn sie daran nur dachte.) Da war die Schürze, die Ida auf der hinteren Veranda aufbewahrte; da waren die Schnupftabaksdosen mit Tomatensämlingen und das Gemüsebeet am Haus.
Und das war alles. Ida hatte bei Harriet zu Hause gearbeitet, seit Harriet lebte. Aber wenn diese wenigen Habseligkeiten fort wären – der Plastikbecher, die Schnupftabaksdosen, die Sirupflasche – würde nichts mehr erkennen lassen, dass sie je da gewesen war. Bei dieser Erkenntnis fühlte sich Harriet noch unermesslich viel schlechter. Sie stellte sich das verlassene Gemüsebeet vor, überwuchert von Unkraut.
Ich werde mich darum kümmern, nahm sie sich vor. Ich werde Sämereien bestellen, aus der Anzeige hinten auf der Illustrierten. Sie malte sich aus, wie sie in Strohhut und Gartenkittel – wie der braune Kittel, den Edie trug – auf die harte Kante einer Schaufel trat. Edie züchtete Blumen, würde ihr sagen können, wie das mit Gemüse ging. Edie würde sich wahrscheinlich freuen, dass sie sich auf einmal für etwas Nützliches interessierte.
Die roten Handschuhe kamen ihr jäh in den Sinn, und bei dem Gedanken daran erhoben sich Angst und Ratlosigkeit
und Leere wie eine mächtige Welle und fluteten in der Hitze über sie hinweg. Das einzige Geschenk, das sie je von Ida bekommen hatte, und sie hatte sie verloren... Nein, sagte sie sich, du wirst die Handschuhe schon wieder finden , denk jetzt nicht daran, denk an etwas anderes...
Woran denn? Daran, wie berühmt sie eines Tages sein würde, als preisgekrönte Botanikerin. Sie sah sich wie George Washington Carver in einem weißen Laborkittel zwischen Reihen von Blumen einhergehen. Sie würde eine brillante Wissenschaftlerin sein und dennoch bescheiden bleiben und kein Geld für ihre vielen genialen Erfindungen nehmen.
Am Tag sah der Blick von der Brücke anders aus. Die Weiden waren nicht grün, sondern braun verdorrt, und Rinder hatten staubig rote Flecken kahl getrampelt. An den Stacheldrahtzäunen gedieh ein üppiges Gestrüpp von Geißblattranken, durchflochten von Gift-Efeu. Dahinter dehnte sich wegloses Nichts; nur das Skelett einer Scheune – graue Bretter, rostiges Blech – lag da wie ein Schiffswrack am Strand.
Der Schatten der aufgestapelten Zementsäcke war überraschend tief und kühl, und auch der Zement an ihrem Rücken
Weitere Kostenlose Bücher