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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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fühlte sich kühl an. Mein ganzes Leben Lang, dachte sie, werde ich mich an diesen Tag erinnern und daran, wie ich mich fühle. Unsichtbar hinter einer Anhöhe dröhnte monoton eine Landmaschine. Darüber kreisten drei Bussarde wie schwarze Papierdrachen. Der Tag, an dem sie Ida verloren hatte, würde sich immer mit diesen schwarzen Schwingen verbinden, die durch einen wolkenlosen Himmel glitten, mit schattenlosen Feldern und einer Luft wie trockenes Glas.
    Hely saß ihr mit gekreuzten Beinen im weißen Staub gegenüber, den Rücken an die Betonmauer gelehnt, und las ein Comic-Heft, auf dessen Cover ein Sträfling im gestreiften Anzug auf Händen und Knien über einen Friedhof kroch. Er schien halb zu schlafen, obwohl er eine Weile, vielleicht eine Stunde lang, wachsam an der Mauer gekniet und jedes Mal (sssh! sssh!) gezischt hatte, wenn ein Lastwagen vorbeifuhr.
    Mit einiger Anstrengung lenkte sie ihre Gedanken wieder zu ihrem Gemüsegarten zurück. Es würde der schönste Garten
der Welt werden, mit Obstbäumen und Zierhecken und dekorativ angeordneten Kohlpflanzen. Irgendwann würde er das ganze Grundstück ausfüllen, und Mrs. Fountains noch dazu. Die Leute, die vorbeifuhren, würden anhalten und sich herumführen lassen. Der Ida-Rhew-Brownley-Gedächtnisgarten... nein, nicht »Gedächtnis « , dachte sie hastig, denn das klang, als wäre Ida gestorben.
    Ganz plötzlich fiel einer der Bussarde vom Himmel, und die beiden andern stießen ihm nach, als würden sie von derselben Drachenschnur heruntergeholt, stießen herab, um irgendeine zermalmte Feldmaus oder einen Igel, den der Traktor überrollt hatte, zu verschlingen. In der Ferne kam ein Auto, verschwommen in der flimmernden Luft. Harriet überschattete ihre Augen mit beiden Händen. Dann sagte sie: »Hely!«
    Das Comic-Heft flatterte zu Boden. »Bist du sicher?« Er rappelte sich hoch, um über die Mauer zu schauen. Sie hatte schon zweimal Fehlalarm gegeben.
    »Er ist es«, sagte sie, und auf Händen und Knien kroch sie durch den weißen Staub zur gegenüberliegenden Mauer, wo die Kiste auf vier Zementsäcken stand.
    Hely spähte blinzelnd die Straße entlang. Ein Auto schimmerte in der Ferne in Wellen von Benzindunst und Staub. Für den TransAm schien es nicht schnell genug heranzukommen, aber gerade, als er das sagen wollte, blitzte die Motorhaube in der Sonne in hartem, metallischem Bronzeglanz auf. Durch das heiße Flirren der Luftspiegelungen brach der zähnefletschende Kühlergrill: glänzend, haifischgesichtig, unverwechselbar.
    Er duckte sich hinter die Mauer (die Ratliffs hatten Pistolen, was er irgendwie bis zu diesem Augenblick vergessen hatte) und kroch hinüber, um ihr zu helfen. Zusammen kippten sie die Kiste auf die Seite, sodass das Gitter der Straße zugewandt war. Beim ersten falschen Alarm waren sie gelähmt gewesen, als es darum ging, blind an der vergitterten Seite herunterzugreifen und den Riegel aufzuziehen, und sie hatten konfus herumgetappt, während der Wagen unter ihnen vorbeischoss. Jetzt war der Verschluss gelockert, und sie hielten einen
Eisstiel bereit, um den Riegel ganz aufzuschieben, ohne ihn zu berühren.
    Hely sah sich um. Der TransAm rollte auf sie zu – beunruhigend langsam . Er hat uns gesehen – er muss uns gesehen haben . Aber der Wagen hielt nicht an. Nervös schaute er zu der Kiste hinauf, die über ihren Köpfen stand.
    Harriet atmete, als ob sie Asthma hätte. Sie warf einen Blick über die Schulter. »Okay...«, sagte sie. »Los: eins, zwei...«
    Der Wagen verschwand unter der Brücke, sie stieß den Riegel zurück, und die Welt erstarrte in der Zeitlupe, als sie in gemeinsamer Anstrengung die Kiste nach vorn kippten. Als die Kobra verrutschte und ins Gleiten kam und mit dem Schwanz hin und her schlug, um sich ins Lot zu bringen, durchzuckten Hely mehrere Gedanken gleichzeitig, vor allem aber: Wie würden sie davonkommen? Konnten sie vor ihm weglaufen? Denn anhalten würde er auf jeden Fall – jeder Trottel würde anhalten, wenn eine Kobra durch das Dach in seinen Wagen fiel –, und dann würde er hinter ihnen her sein...
    Der Beton vibrierte unter ihren Füßen, gerade als die Kobra hinausrutschte und durch die leere Luft fiel. Harriet stand auf und legte die Hände auf die Mauer, und ihr Gesicht war hart und niederträchtig wie das eines Jungen aus der achten Klasse. »Bomben frei«, sagte sie.
    Sie beugten sich über die Mauer, um besser zu sehen. Hely war es schwindlig. Unten wand sich die Kobra im

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