Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
gediegenem Klicken auf die Gabel. Hely mit seiner dünnen, vergnügten Stimme und seinen Plänen für Miss Ehrlichson, ja, selbst Hely kam ihr jetzt vor wie etwas, das verloren war oder bald verloren sein würde, etwas Vergängliches wie Gewitterwürmchen oder Sommer. Das Licht in der schmalen Diele war jetzt fast völlig verschwunden. Und ohne dass Helys Stimme, so blechern und leise sie auch gewesen war, die Düsternis aufhellte, wurde ihre Trauer immer schwärzer und rauschte tosend heran wie ein Wasserfall.
    Hely! Er lebte in einer geschäftigen, geselligen, farbenfrohen Welt, wo alles modern und hell war: mit Cornflakes und Pingpong, Stereoanlagen und Soda, und seine Mutter lief in T-Shirt und abgeschnittenen Jeans barfuß auf dem Teppichboden hin und her. Sogar der Geruch drüben war neu und limonenfrisch  – nicht wie in ihrem eigenen trüben Zuhause schwer und miefig von Erinnerungen, ein kummervoller Widerhall von Staub und alten Kleidern. Was kümmerten Hely, der jetzt Tacos zum Abendessen aß und im Herbst fröhlich in Miss Ehrlichsons Klassenzimmer davonsegeln würde, was kümmerten Hely Kälte und Einsamkeit? Was wusste er von ihrer Welt?
    Wenn Harriet sich später an diesen Tag erinnerte, kam er ihr vor wie der wissenschaftlich exakte Kristallisationspunkt, an dem ihr Leben ins Elend umgeschwenkt war. Sie war nie
wirklich glücklich und zufrieden gewesen, aber auf die seltsamen Dunkelheiten, die jetzt vor ihr lagen, war sie doch nicht vorbereitet. Für den Rest ihres Lebens würde Harriet sich mit schmerzhaftem Schrecken daran erinnern, dass sie nicht tapfer genug gewesen war, um einen letzten Nachmittag – den allerletzten! – auf dem Boden vor Idas Sessel zu sitzen und den Kopf auf Idas Knie zu legen. Wovon sie wohl gesprochen hätten? Sie würde es nie wissen. Es würde sie schmerzen, dass sie feige davongelaufen war, bevor Idas letzte Arbeitswoche vorbei war. Es würde sie schmerzen, dass das ganze Missverständnis auf irgendeine merkwürdige Weise ihre eigene Schuld gewesen war. Es würde sie schrecklich schmerzen, dass sie Ida nicht Lebewohl gesagt hatte. Aber vor allem würde es sie schmerzen, dass sie zu stolz gewesen war, Ida zu sagen, dass sie sie liebte. In ihrem Zorn und ihrem Stolz hatte sie sich nicht klar gemacht, dass sie Ida nie wieder sehen würde. Ein ganz neues, hässliches Leben senkte sich um Harriet herab, dort im dunklen Flur am Telefontisch, und auch wenn es ihr jetzt noch neu erschien, würde es in den kommenden Wochen grausig vertraut werden.

KAPITEL 6.
Das Begräbnis.
    »Gastlichkeit war das Leitmotiv des Lebens in jenen Tagen«, sagte Edie. Ihre Stimme, klar und deklamierend, erhob sich mühelos über den heißen Wind, der zu den Autofenstern hereinrauschte. Majestätisch und ohne sich der Mühe des Blinkens zu unterziehen, schwenkte sie auf die linke Spur und schnitt dabei einen Holzlaster.
    Der Oldsmobile war eine üppige, kurvenreiche Seekuh von einem Auto. Edie hatte ihn in den fünfziger Jahren in Colonel Chipper Dee’s Autohandlung in Vicksburg gekauft. Eine endlose leere Sitzfläche erstreckte sich zwischen Edie auf der Fahrerseite und Harriet, die sich auf der anderen Seite gegen die Tür flegelte. Zwischen ihnen – neben Edies Basthandtasche mit den hölzernen Henkeln – standen eine karierte Thermosflasche mit Kaffee und eine Schachtel Doughnuts.
    »Draußen in ›Drangsal‹ kreuzten Mutters Verwandte aus heiterem Himmel auf und blieben manchmal wochenlang da, und niemand dachte sich auch nur das Geringste dabei«, erzählte Edie. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug fünfundfünfzig, aber sie blieb bei ihrem gewohnten, entspannten Tempo: vierzig Meilen pro Stunde.
    Im Rückspiegel sah Harriet, wie der Fahrer des Holzlasters sich mit der flachen Hand an die Stirn schlug und ungeduldige Gebärden machte.
    »Ich spreche allerdings nicht von den Verwandten aus Memphis«, sagte Edie. »Ich spreche von den Verwandten aus Baton Rouge. Miss Ollie und Jules und Mary Willard. Und die kleine Tante Fluff!«
    Harriet starrte trostlos aus dem Fenster: Sägewerke und Fichtenwüsten, lachhaft rosig im Licht des frühen Morgens.
Ein warmer, staubiger Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht, peitschte monoton eine lose Ecke der Deckenbespannung und ließ den Zellophandeckel der Doughnut-Schachtel rattern. Sie hatte Hunger und Durst, aber es gab außer dem Kaffee nichts zu trinken, und die Doughnuts waren bröckelig und altbacken. Edie kaufte immer Doughnuts vom

Weitere Kostenlose Bücher