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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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ohne dass Charlotte ganz genau begriff, worum es dabei ging.
    »Ich hab Edie angerufen. Sie fährt mich hin.«
    »Was?«
    »Die zweite Runde hat schon angefangen, und sie haben zu Edie gesagt, es wäre gegen die Regeln, aber sie würden mich trotzdem nehmen. Sie haben ihr sogar einen Rabatt gegeben.«
    Sie wartete mit undurchdringlicher Miene. Ihre Mutter sagte nichts, aber es kam auch nicht darauf an, was sie zu sagen hatte. Jetzt lag die Sache klar in Edies Händen. Und so sehr sie Camp de Selby verabscheute, es war doch nicht so schlimm wie die Erziehungsanstalt oder das Gefängnis.
    Denn Harriet hatte ihre Großmutter aus schierer Panik angerufen. Als sie die Natchez Street hinuntergerannt war, hatte sie Sirenengeheul gehört – sie wusste nicht, ob es ein Krankenwagen oder die Polizei war –, noch bevor sie zu Hause angekommen war. Keuchend, hinkend, mit Krämpfen in den Waden und brennender Lunge, schloss Harriet sich im unteren Bad ein, zog sich aus, warf ihre Kleider in den Wäschekorb und ließ sich ein Bad ein. Während sie starr in der Wanne saß und auf die schmalen, tropischen Lichtstreifen starrte, die durch die Jalousie in den halbdunklen Raum fielen, hatte sie ein paarmal Geräusche wie von Stimmen vor der Haustür gehört. Was um alles in der Welt sollte sie tun, wenn es die Polizei wäre?
    Versteinert vor Angst und fest davon überzeugt, dass jeden Augenblick jemand an die Badezimmertür hämmern würde, saß sie in der Wanne, bis das Wasser kalt war. Als sie herausgestiegen war und sich angezogen hatte, schlich sie sich auf Zehenspitzen in den vorderen Flur und spähte durch die Gardine
hinaus, aber auf der Straße war niemand zu sehen. Ida war schon nach Hause gegangen, und im Haus herrschte unheilvolle Stille. Es war, als seien Jahre verstrichen, aber in Wirklichkeit waren es nur fünfundvierzig Minuten gewesen.
    Angespannt blieb sie im Flur stehen und hielt am Fenster Wache. Nach einiger Zeit hatte sie genug davon, aber sie brachte es immer noch nicht über sich, die Treppe hinaufzugehen, und so wanderte sie zwischen Flur und Wohnzimmer hin und her und schaute immer wieder vorn aus dem Fenster. Dann hörte sie wieder Sirenen, und einen Moment lang blieb ihr das Herz stehen, weil es sich anhörte, als bögen sie in die George Street ein. Sie stand mitten im Wohnzimmer und wagte nicht, sich zu rühren, und nach sehr kurzer Zeit ließen ihre Nerven sie vollends im Stich, und sie wählte Edies Nummer. Atemlos trug sie das Telefon zum Fenster bei der Tür, damit sie beim Sprechen die Straße durch die Gardine im Auge behalten konnte.
    Edie, das musste man ihr lassen, hatte mit dankenswerter Schnelligkeit die Initiative ergriffen – so schnell, dass Harriet beinahe eine leise Regung von neu erwachter Zuneigung zu ihr empfand. Sie rief auf der Stelle am Lake de Selby an, und auf das anfängliche Zögern eines maulfaulen Mädchens im Büro hin verlangte sie, dass man sie unverzüglich mit Dr. Vance verbinde. Sodann arrangierte sie alles Nötige, und als sie zehn Minuten später zurückrief, hatte sie alles geregelt: eine Gepäckliste, eine Wasserski-Erlaubnis, eine obere Koje im Chickadee Wigwam und den Plan, Harriet am nächsten Morgen um sechs Uhr abzuholen. Sie hatte das Camp nicht (wie Harriet glaubte) vergessen, sondern nur keine Lust mehr gehabt, sich länger herumzuärgern – einerseits mit Harriet und andererseits mit Harriets Mutter, von der sie in diesen Fragen keine Unterstützung erhielt. Nach Edies fester Überzeugung rührten Harriets Probleme daher, dass sie nicht genug Umgang mit anderen Kindern hatte, speziell nicht mit netten, kleinen, gewöhnlichen Baptistenkindern, und während Harriet mit Mühe und Not den Mund hielt, hatte sie sich am Telefon voller Begeisterung darüber ausgelassen, wie viel Spaß
Harriet dort haben werde und welche Wunder ein bisschen Disziplin und christliche Sportlichkeit bei ihr wirken würden.
    Das Schweigen im Schlafzimmer ihrer Mutter war ohrenbetäubend. »Tja«, sagte Charlotte. Sie legte die Zeitschrift zur Seite. »Das kommt alles sehr plötzlich. Ich dachte, es wäre dir so schrecklich schlecht gegangen im Camp letztes Jahr.«
    »Wir fahren, bevor du wach bist. Edie will früh auf der Straße sein. Ich dachte, ich sollte es dir sagen.«
    »Wieso hast du es dir anders überlegt?«
    Harriet zuckte bloß unverschämt die Achseln.
    »Nun... ich bin stolz auf dich.« Charlotte wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Harriet, das fiel ihr jetzt

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