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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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diesem Augenblick? Sagen Sie mir, was ich sagen muss, um mit Ihnen ins Geschäft zu kommen ... ) – während Edie, ausnahmsweise merkwürdig unfähig, sich ihn vom Hals zu schaffen, dastand und sich seine Schallplatte anhörte, übergab Libby sich ins Waschbecken, und dann legte sie sich mit einem kühlen Tuch auf der Stirn auf ihr Bett und versank in ein Koma, aus dem sie nie wieder aufwachen sollte.

    Ein Schlaganfall. Wann sie den ersten erlitten hatte, wusste niemand. An einem anderen Tag wäre Odean da gewesen, aber Odean hatte wegen der Reise diese Woche frei. Als Libby schließlich die Tür öffnete – sie hatte eine Weile gebraucht, so lange, dass Allison schon dachte, sie sei eingeschlafen –, hatte sie keine Brille aufgehabt, und ihre Augen blickten ein wenig verschwommen. Sie schaute Allison an, als habe sie jemand anderen erwartet.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Allison. Sie hatte von dem Unfall gehört.
    »O ja«, sagte Libby abwesend.
    Sie ließ Allison herein, und dann wanderte sie im Haus nach hinten, als suche sie etwas, das sie verlegt hatte. Anscheinend fehlte ihr nichts, sie hatte nur einen fleckigen Bluterguss auf dem Wangenknochen, der die Farbe von dünn aufgestrichenem Traubengelee hatte, und ihr Haar war nicht so ordentlich, wie sie es sonst gern hatte.
    Allison sah sich um. »Findest du deine Zeitung nicht?« Das Haus war blitzsauber: die Fußböden frisch gewischt, alles abgestaubt, sogar die Sofakissen aufgeschüttelt und ordentlich
aufgestellt. Irgendwie war es gerade die adrette Sauberkeit im Haus gewesen, die Allison daran gehindert hatte zu merken, dass etwas nicht in Ordnung war. Bei ihr zu Hause verband sich Krankheit mit Unordnung: mit speckigen Vorhängen und knirschender Bettwäsche, mit offenen Schubladen und mit Krümeln auf dem Tisch.
    Nach kurzer Suche hatte Allison die Zeitung gefunden. Die Seite mit dem Kreuzworträtsel nach oben gefaltet, die Brille obenauf, lag sie auf dem Boden neben Libbys Sessel. Sie trug sie in die Küche, wo Libby am Tisch saß und mit der Hand das Tischtuch glatt strich, in kleinen, monotonen Kreisbewegungen.
    »Hier ist dein Rätsel«, sagte Allison. In der Küche war es unbehaglich hell. Obwohl die Sonne durch die Gardinen strahlte, brannte aus irgendeinem Grund die Deckenbeleuchtung, als wäre es ein dunkler Winternachmittag und nicht mitten im Sommer.
    »Nein, ich kann das dumme Ding nicht machen«, sagte Libby gereizt und schob die Zeitung beiseite. »Die Buchstaben rutschen immer wieder vom Papier... Ich muss jetzt zusehen, dass ich mit der Roten Bete anfange.«
    »Rote Bete?«
    »Wenn ich jetzt nicht anfange, wird sie nicht rechtzeitig fertig werden. Die kleine Braut kommt mit dem Nummer vier...«
    »Welche Braut?«, fragte Allison nach einer kurzen Pause. Sie hatte noch nie von Nummer vier gehört, was immer das sein mochte. Alles war hell und unwirklich. Ida Rhew war erst vor ein paar Stunden gegangen – genau wie an jedem anderen Freitag auch, nur dass sie weder am Montag noch sonst irgendwann zurückkommen würde. Und sie hatte nichts mitgenommen außer dem roten Plastikbecher, aus dem sie trank. Im Flur, auf dem Weg hinaus, hatte sie die sorgfältig verpackten Setzlinge und den Karton mit den Geschenken zurückgewiesen: Das sei alles zu schwer zum Tragen. »Ich brauch das nicht«, sagte sie fröhlich und schaute Allison dabei in die Augen. Sie klang wie jemand, der von einem kleinen Kind einen
Knopf oder ein angelecktes Bonbon angeboten bekommt. »Wozu, glaubst du, brauch ich diesen ganzen Unsinn?«
    Allison war wie vom Donner gerührt und kämpfte mit den Tränen. »Ida, ich hab dich lieb«, sagte sie.
    »Ja«, sagte Ida nachdenklich, »ich hab dich auch lieb.«
    Es war furchtbar, so furchtbar, dass es nicht wahr sein konnte. Aber da standen sie, in der Haustür. Trauer stieg Allison in die Kehle wie ein dicker Kloß, als sie sah, wie säuberlich Ida den grünen Scheck zusammenfaltete, der mit der Vorderseite nach oben auf dem Tisch im Flur lag – zwanzig Dollar 100 –, wie sie darauf achtete, dass die beiden Ränder absolut gleichmäßig aufeinander lagen, ehe sie mit Daumen und Zeigefinger eine gerade Falte ins Papier kniff. Dann klappte sie ihre kleine schwarze Handtasche auf und tat ihn hinein.
    »Von zwanzig Dollar die Woche kann ich nicht mehr leben«, sagte sie. Ihre Stimme klang ruhig und normal, und gleichzeitig war etwas damit nicht in Ordnung. Wie konnten sie so im Flur stehen? Wie konnte dieser Augenblick real

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