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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Grab. Jetzt saßen sie immer noch hinten auf der Veranda und stellten sich an wie damals bei dem toten Kater: kein Unterschied, dachte Edie verbittert, überhaupt kein Unterschied. Und nicht minder abscheulich war Cousine Delle mit ihren Krokodilstränen, die Libby seit Jahren nicht mehr besucht hatte. »Es ist, als hätten wir Mutter noch einmal verloren«, hatte Tatty gesagt, aber für Edie war Libby sowohl Mutter als auch Schwester gewesen. Mehr als das: Sie war der einzige Mensch auf der Welt, männlich oder weiblich, lebendig oder tot, dessen Meinung ihr jemals etwas bedeutet hatte.
    Auf zweien von diesen Esszimmerstühlen mit der Lyralehne  – alte Freunde im Unglück, wie sie sich hier an den Wänden
des kleinen Zimmers drängten – hatte Mutters Sarg gestanden, vor mehr als sechzig Jahren unten im düsteren Salon von Haus »Drangsal«. Ein fahrender Prediger von der Kirche Gottes, nicht mal ein Baptist, hatte aus der Bibel vorgelesen, irgendeinen Psalm, in dem es um Gold und Onyx gegangen war, bloß dass er nicht Onyx gelesen hatte, sondern »Oinks«. Das war zum Familienwitz geworden: »Oinks«. Die arme kleine Libby war erst ein blasser, dünner Teenager gewesen in einem alten schwarzen Teekleid ihrer Mutter, an Saum und Busen mit Stecknadeln passend gemacht, ihr porzellanweißes Gesicht (natürlich ohne Farbe, wie es bei blonden Mädchen der Fall war in jenen Tagen, bevor es Sonnenbräune und Rouge gab) von Schlafmangel und Trauer zu kränklicher, trockener Kreideblässe ausgelaugt. Vor allem erinnerte sich Edie daran, dass ihre eigene Hand sich in Libbys feucht und heiß angefühlt hatte und dass sie die ganze Zeit auf die Füße des Predigers gestarrt hatte. Er hatte zwar versucht, ihren Blick auf sich zu ziehen, aber sie war zu schüchtern gewesen, um ihm ins Gesicht zu schauen, und mehr als ein halbes Jahrhundert später sah sie noch immer die Risse im Leder seiner Schnürschuhe und den rostfarbenen Streifen Sonnenlicht, der über die Aufschläge seiner schwarzen Hose fiel.
    Der Tod ihres Vaters war einer jener Sterbefälle gewesen, die jedermann als »Segen« bezeichnete, und die Beerdigung war seltsam vergnügt vonstatten gegangen. Scharen von rotgesichtigen alten »Landsleuten« (wie der Richter und seine Freunde einander nannten, alle seine Angelkumpane und Busenfreunde aus der Anwaltsvereinigung) hatten im Salon von »Drangsal« mit dem Rücken zum Kamin gestanden, Whiskey getrunken und sich Geschichten aus Kindheit und Jugend des »alten Schubsers« erzählt. »Alter Schubser«, das war ihr Spitzname für ihn gewesen. Und gerade sechs Monate später der kleine Robin – noch jetzt ertrug sie es nicht, daran zu denken: dieser winzige Sarg, kaum anderthalb Meter lang. Wie hatte sie diesen Tag nur überstehen können? Bis obenhin abgefüllt mit Beruhigungsmitteln... ein Schmerz, der so stark war, dass ihr davon schlecht geworden war wie bei einer Lebensmittelvergiftung...
schwarzen Tee hatte sie erbrochen und Eiersoße...
    Sie blickte aus dem Nebel ihrer Gedanken auf, und ein übler Schreck durchfuhr sie, als sie eine kleine Robin-Gestalt in Tennisschuhen und abgeschnittenen Jeans sah, die sich durch ihren Flur schlich: der kleine Hull, erkannte sie nach einem Augenblick der Lähmung, Harriets Freund. Wer um alles in der Welt hatte ihn hereingelassen? Edie stahl sich in den Flur und schlich sich an ihn heran. Als sie ihn bei der Schulter packte, fuhr er zusammen und schrie – ein kleiner, keuchender, panischer Aufschrei – und duckte sich vor ihr zusammen wie eine Maus vor einer Eule.
    »Kann ich dir helfen?«
    »Harriet... ich wollte ...«
    »Ich bin nicht Harriet. Harriet ist meine Enkelin.« Edie verschränkte die Arme und beobachtete ihn mit diesem sportlichen Vergnügen an seinem Unbehagen, das für Hely Grund genug war, sie zu hassen.
    Hely versuchte es noch einmal. »Ich... ich...«
    »Na los, spuck’s schon aus.«
    »Ist sie hier?«
    »Ja, sie ist hier. Jetzt lauf nach Hause.« Sie packte ihn bei den Schultern, drehte ihn um und schob ihn mit beiden Händen zur Tür.
    Der Junge schüttelte sie ab. »Geht sie wieder ins Camp zurück?«
    »Jetzt ist keine Zeit zum Spielen«, fauchte Edie. Die Mutter des Jungen, eine kokette kleine Rotznase von Kindesbeinen an, hatte sich nicht die Mühe gemacht, bei Libbys Beerdigung zu erscheinen, hatte keine Blumen geschickt, ja, nicht einmal angerufen. »Lauf zu deiner Mutter, und sag ihr, sie soll darauf achten, dass du die Leute nicht

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