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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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ihm mit einer Augenpipette Milch einzuflößen, aber der Kater schloss die Augen und spuckte die Milch
als hässliches Schaumrinnsal zwischen den Zähnen aus. Am Morgen zuvor, als die Kinder in der Schule gewesen waren, hatte sie ihn in der Küche gefunden, wie er in einer Art Anfall zappelte, und da hatte sie ihn in ein Handtuch gewickelt und zum Tierarzt gebracht.
    Als die Mädchen am Nachmittag bei ihr vorbeikamen, sagte sie: »Es tut mir Leid, aber ich kann nichts tun. Ich war heute Vormittag mit dem Kater bei Dr. Clark. Er sagt, wir werden ihn einschläfern müssen.«
    Harriet hatte die Nachricht relativ gleichmütig aufgenommen, überraschenderweise, denn sie rastete leicht aus, wenn ihr danach war. »Armer alter Weenie«, hatte sie nur gesagt und sich vor den Karton mit dem Kater gekniet. »Armer Miezekater.« Und sie hatte die Hand auf die bebende Flanke des Katers gelegt. Sie liebte ihn fast so sehr wie Allison, obwohl er wenig Notiz von ihr nahm.
    Aber Allison war blass geworden. »Wie meinst du das, ihn einschläfern?«
    »Wie ich es sage.«
    »Das darfst du nicht. Das erlaube ich dir nicht.«
    »Wir können nichts mehr für ihn tun«, sagte Edie scharf. »Der Tierarzt weiß es am besten.«
    »Ich lasse nicht zu, dass du ihn umbringst.«
    »Was willst du denn? Soll das arme Ding weiter leiden?«
    Allison sank mit zitternder Unterlippe vor der Schachtel des Katers auf die Knie und brach hysterisch in Tränen aus.
    Das war gestern Nachmittag um drei Uhr gewesen. Seitdem war Allison nicht von der Seite des Katers gewichen. Sie hatte nichts zu Abend gegessen, sie hatte Decke und Kopfkissen zurückgewiesen, sie hatte einfach die ganze Nacht auf dem kalten Fußboden gelegen und geheult und geweint. Edie hatte ungefähr eine halbe Stunde lang bei ihr in der Küche gesessen und versucht, ihr einen munteren kleinen Vortrag darüber zu halten, dass alles auf der Welt sterben müsse, und dass Allison lernen müsse, das zu akzeptieren. Aber Allison hatte nur noch mehr geweint, und schließlich hatte Edie aufgegeben; sie war
in ihr Zimmer gegangen, hatte die Tür zugemacht und einen Agatha-Christie-Roman angefangen.
    Gegen Mitternacht, nach Edies Wecker auf dem Nachttisch, hatte das Weinen endlich aufgehört. Aber jetzt war sie wieder voll dabei. Edie nahm einen Schluck Tee. Harriet war ganz in Captain Scott vertieft. Allisons Frühstück auf der anderen Seite des Tisches war unberührt.
    »Allison«, sagte Edie.
    Allisons Schultern bebten, aber sie antwortete nicht.
    »Allison. Komm her, und iss dein Frühstück.« Das sagte sie jetzt zum dritten Mal.
    »Ich habe keinen Hunger«, war die gedämpfte Antwort.
    »Jetzt hör mal zu«, fauchte Edie. »Ich habe wirklich genug. Du bist zu alt für ein solches Benehmen. Ich wünsche, dass du augenblicklich aufhörst, dich am Boden zu wälzen, und aufstehst und dein Frühstück isst. Jetzt komm schon. Es wird kalt.«
    Dieser Tadel rief nur ein schmerzvolles Geheul hervor. »Ach, um Himmels willen.« Edie wandte sich wieder ihrem Frühstück zu. »Mach, was du willst. Ich frage mich bloß, was deine Lehrer in der Schule sagen würden, wenn sie sehen könnten, wie du dich hier auf dem Fußboden herumrollst wie ein großes Baby.«
    »Hör mal«, sagte Harriet plötzlich, und sie fing an, mit pedantischer Stimme aus ihrem Buch vorzulesen:
    »Titus Oates ist dem Ende sehr nah, scheint es. Was er tun wird – oder was wir tun werden –, weiß Gott allein. Wir haben die Sache nach dem Frühstück erörtert; er ist ein tapferer, prächtiger Kerl, und er ist sich über die Lage im Klaren, aber...«
    »Harriet, keiner von uns interessiert sich im Augenblick sehr für Captain Scott«, sagte Edie. Sie hatte das Gefühl, selbst immer näher an das Ende ihrer Möglichkeiten zu kommen.
    »Ich sage nur, dass Scott und seine Männer tapfer waren. Sie behielten ihren Mut. Sogar, als sie in den Sturm gerieten und wussten, dass sie alle sterben würden.« Und sie fuhr
mit erhobener Stimme fort: »›Wir sind dem Ende nah, aber wir haben unseren guten Mut nicht verloren und werden ihn auch nicht verlieren.‹«
    »Ja, der Tod ist freilich ein Teil des Lebens«, sagte Edie resigniert.
    »Scotts Männer liebten ihre Hunde und ihre Ponys, aber es wurde so schlimm, dass sie jedes einzelne Tier erschießen mussten. Hör dir das an, Allison. Sie mussten sie essen .« Sie blätterte ein paar Seiten zurück und beugte den Kopf wieder über das Buch. »›Die armen Tiere! Sie haben sich wunderbar

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