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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zurück. Sie sprang auf und lief zu der Pappschachtel. »Armer Weenie«, sagte sie und streichelte den fröstelnden Kater. »Arme Mieze. Bitte bring ihn nicht gleich weg, Edie.«
    Die Augen des alten Katers waren vor Schmerzen halb geschlossen. Kraftlos schlug er mit dem Schwanz an die Wand der Schachtel.
    Halb erstickt vor Schluchzen, schlang Allison die Arme um ihn und zog seinen Kopf an ihre Wange. »Nein, Weenie.« Sie bekam einen Schluckauf. »Nein, nein, nein.«
    Edie kam herüber und nahm ihr den Kater überraschend sanft ab. Als sie ihn behutsam hochhob, stieß er einen zarten und beinahe menschlichen Schrei aus. Sein graues Mäulchen, zu einem gelbzahnigen, starren Grinsen verzerrt, sah aus wie bei einem alten Mann, geduldig und vom Leid erschöpft.
    Edie kraulte ihn zärtlich hinter den Ohren. »Reich mir das Handtuch, Harriet.«
    Allison wollte etwas sagen, konnte aber vor lauter Schluchzen nicht sprechen.
    »Nicht, Edie«, flehte Harriet, die jetzt auch weinte. »Bitte. Ich habe ihm noch nicht auf Wiedersehen sagen können.«
    Edie bückte sich und hob das Handtuch selbst auf; dann richtete sie sich wieder auf. »Dann sag ihm auf Wiedersehen«, befahl sie ungeduldig. »Der Kater geht jetzt, und er wird vielleicht eine Weile wegbleiben.«

    Eine Stunde später saß Harriet, deren Augen immer noch rot waren, hinten auf Edies Veranda und schnitt das Bild eines Pavians aus dem Band P von Compton’s Encyclopedia. Als Edies blauer Oldsmobile aus der Zufahrt gerollt war, hatte auch sie sich neben die leere Schachtel auf den Küchenfußboden gelegt und ebenso stürmisch geweint wie ihre Schwester. Als der Tränenstrom nachgelassen hatte, war sie aufgestanden und in das Schlafzimmer ihrer Großmutter gegangen, hatte eine gerade Nadel aus dem Nadelkissen auf dem Sekretär gezogen und sich eine Weile damit vergnügt, in winzigen Buchstaben ICH HASSE EDIE auf das Fußende von Edies Bett zu ritzen. Aber das erwies sich als seltsam unbefriedigend, und als sie schniefend auf dem Teppich vor dem Fußende kauerte, kam ihr plötzlich eine Idee, die mehr Aufmunterung versprach. Wenn sie das Paviansgesicht aus dem Lexikon geschnitten hätte, würde sie es auf Edies Gesicht kleben, auf ein Porträt im Familienalbum. Sie hatte versucht, Allison für das Projekt zu interessieren, aber Allison hatte mit dem Gesicht nach unten neben der leeren Katzenschachtel gelegen und nicht einmal hinschauen wollen.
    Edies Gartentor öffnete sich kreischend, und Hely Hull kam hereingesaust, ohne es hinter sich zu schließen. Er war elf, ein Jahr jünger als Harriet, und trug sein aschblondes Haar bis auf die Schultern, womit er seinen älteren Bruder, Pemberton, imitierte. »Harriet«, rief er und polterte die Verandatreppe herauf,
»hey, Harriet.« Dann hörte er das monotone Schluchzen aus der Küche und blieb wie angewurzelt stehen. Als Harriet aufblickte, sah er, dass sie auch geweint hatte.
    »O nein«, sagte er entsetzt. »Sie schicken euch ins Camp, ja?«
    Camp Lake de Selby war Helys – und Harriets – größter Schrecken. Er war ein christliches Kinder-Camp, an dem sie im Sommer zuvor beide zwangsweise teilgenommen hatten. Jungen und Mädchen (getrennt an gegenüberliegenden Ufern des Sees) wurden dort genötigt, vier Stunden täglich mit Bibelstudium zu verbringen, und die restliche Zeit mussten sie Taue flechten und in blöden, erniedrigenden Sketchen mitspielen, die die Betreuer geschrieben hatten. Auf der Jungenseite sprachen sie Helys Namen beharrlich falsch aus – sie sagten nicht »Healy« mit langem i, wie es richtig war, sondern machten ein demütigendes »Helly« daraus, das sich auf »Nelly« reimte. Und noch schlimmer: Sie hatten ihm in der Versammlung das Haar kurz geschnitten, als spaßige Unterhaltung für die anderen Camper. Und auch wenn Harriet die Bibelstunden auf ihrer Seite durchaus Spaß gemacht hatten, hauptsächlich, weil sie ihr ein fasziniertes und leicht zu schockierendes Forum boten, vor dem sie ihre unorthodoxen Ansichten zur Heiligen Schrift ausbreiten konnte, hatte sie sich doch alles in allem genauso elend gefühlt wie Hely: aufstehen um fünf, Licht aus um acht, keine Zeit für sich, keine Bücher außer der Bibel und jede Menge »gute, altmodische Disziplin« (Prügel, öffentliche Verspottung) zur Durchsetzung dieser Regeln. Am Ende der sechs Wochen hatten sie und Hely und die anderen Camper der Ersten Baptistengemeinde im Kirchenbus gesessen und teilnahmslos aus den Fenstern gestarrt, stumm

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