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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Mühe, die Augen offen zu halten. Unermessliche Himmel lasteten auf ihr, Wolken trieben
durch märchenhafte Dunkelheit. Harriet schloss die Augen und sah schwankende Äste, und ohne es zu merken, schlief sie ein.

    Eugene streifte durch die kühlen Flure, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Als schließlich ein Pfleger kam, der das Kind aus dem Untersuchungszimmer rollte, schlenderte er in sicherem Abstand hinterher, um zu sehen, wohin sie sie brachten.
    Der Pfleger blieb am Aufzug stehen und drückte auf einen Knopf. Eugene machte kehrt und ging den Flur hinunter zur Treppe. Als er im ersten Stock aus dem hallenden Treppenhaus kam, hörte er die Fahrstuhlglocke, und dann kam der Wagen unten am Gang mit dem Fußende zuerst durch die Edelstahltür, und der Pfleger manövrierte das Kopfende.
    Sie glitten den Flur hinunter. Eugene schloss die stählerne Feuertür so leise, wie er konnte, und spazierte mit klickenden Absätzen in diskretem Abstand hinterher. Aus sicherer Entfernung merkte er sich das Zimmer, in das sie einbogen. Dann wanderte er zurück zum Aufzug, und unterwegs betrachtete er ausgiebig eine Ausstellung von Kinderzeichnungen am schwarzen Brett und die illuminierten Bilder der Süßigkeiten in einem summenden Automaten.
    Er hatte immer gehört, dass vor einem Erdbeben die Hunde bellten. Tja, und wenn in letzter Zeit irgendetwas Schlimmes passiert war oder bevorgestanden hatte, war jedes Mal dieses schwarzhaarige kleine Mädchen irgendwo in der Nähe gewesen. Und sie war es – keine Frage. Er hatte draußen vor der Mission reichlich Zeit gehabt, sie anzusehen, an dem Abend, als er gebissen worden war.
    Und hier war sie wieder. Beiläufig ging er an der offenen Tür vorbei und warf einen kurzen, verstohlenen Blick hinein. Ein mattes Licht glomm in einer Vertiefung in der Decke und versickerte im Schatten. Im Bett war nur ein kleiner Haufen Decken zu sehen. Darüber, zum Licht hinauf deutend, wie eine Qualle, die in stillem Wasser schwebte, hing ein durchsichtiger
Infusionsbeutel mit einer klaren Flüssigkeit, aus dem sich ein Tentakel herabschlängelte.
    Eugene ging zum Wasserspender, trank einen Schluck und blieb eine Weile vor der Ausstellungsvitrine des Babyhilfswerks stehen. Von diesem Posten aus sah er eine Krankenschwester kommen und gehen. Aber als er wieder zu dem Zimmer zurückspazierte und den Kopf durch die offene Tür streckte, sah er, dass das Mädchen nicht allein war. Ein schwarzer Pfleger war damit beschäftigt, eine Pritsche aufzustellen, und auf Eugenes Fragen reagierte er nicht.
    Eugene lungerte vor der Tür herum und bemühte sich, nicht allzu auffällig zu wirken (was im leeren Korridor natürlich schwierig war), und als schließlich die Schwester mit einem Arm voll Bettwäsche zurückkam, hielt er sie vor der Tür an.
    »Wer ist das Kind da drinnen?«, fragte er in seinem freundlichsten Ton.
    »Das ist Harriet. Die Leute heißen Dufresnes.«
    »Ah.« Der Name ließ eine Glocke läuten, aber er wusste nicht genau, warum. Er spähte an der Schwester vorbei ins Zimmer. »Hat sie niemanden bei sich?«
    »Die Eltern hab ich nicht gesehen, nur die Großmutter.« Die Schwester wandte sich ab und ließ erkennen, dass das Gespräch für sie beendet war.
    »Armes kleines Ding.« Eugene wollte noch nicht aufgeben und streckte den Kopf durch die Tür. »Was hat sie denn?«
    Bevor sie ein Wort sagte, sah Eugene ihr schon am Gesicht an, dass er zu weit gegangen war. »Bedaure, aber diese Information kann ich Ihnen nicht geben.«
    Eugene lächelte – gewinnend, wie er hoffte. »Wissen Sie«, sagte er, »ich weiß, dass diese Narbe in meinem Gesicht nicht besonders schön ist. Aber sie macht mich nicht zu einem schlechten Menschen.«
    Frauen pflegten in der Regel klein beizugeben, wenn er seine Verletzung ins Spiel brachte, aber die Schwester schaute ihn an, als habe er etwas auf Spanisch gesagt.
    »Ich frag ja nur«, sagte Eugene liebenswürdig und hob eine Hand. »Entschuldigen Sie die Störung, Ma’am.« Er kam ihr
nach, aber die Schwester war mit den Bettlaken beschäftigt. Er überlegte, ob er ihr seine Hilfe anbieten sollte, aber die Haltung ihres Rückens warnte ihn davor, sein Glück allzu sehr zu strapazieren.
    Eugene schlenderte zurück zum Süßigkeitenautomaten. Dufresnes. Woher kannte er den Namen? Farish war derjenige, den man danach fragen musste; Farish wusste, wer wer war in der Stadt, und Farish hatte alles im Kopf: Adressen, Familienverbindungen, Skandale. Aber Farish lag

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