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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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durch eine fremde Stadt mit hohen Gebäuden. Sie musste ein paar Bücher in die Bibliothek zurückbringen, bevor dort zugemacht
wurde, aber die Straßen wurden immer enger, bis sie weniger als einen halben Meter breit waren und sie unversehens vor einem hohen Steinhaufen stand. Ich muss ein Telefon finden, dachte sie.
    »Harriet?«
    Das war Edie. Sie stand. Eine Krankenschwester, die einen leeren Rollstuhl vor sich herschob, war durch eine Schwingtür im Hintergrund gekommen.
    Es war eine junge Schwester, mollig und hübsch, mit schwarzer Wimperntusche und fantastisch geschwungenem Lidschatten und einer Menge Rouge, das den unteren Rand ihrer Augenhöhlen umrahmte, ein rosiger Halbkreis vom Wangenbein zum Stirnbein. Sie sah aus (fand Harriet) wie die geschminkten Sängerinnen auf Bildern aus der Pekingoper. Regennachmittage bei Tatty, auf dem Teppich ausgestreckt mit Büchern wie Kabuki-Theater in Japan und Der illustrierte Marco Polo von 1880. Kublai Khan in einer bunt bemalten Sänfte, ah, Masken und Drachen, goldene Buchseiten und Seidenpapier, ganz Japan und China in dem schmalen Missionsbücherschrank am Fuße der Treppe!
    Sie schwebten den hellen Korridor hinunter. Der Wasserturm, der Leichnam im Wasser – das alles war schon zu einem fernen Traum verblasst, und nichts war davon mehr übrig außer ihren Leibschmerzen (die heftig waren: Schmerzen wie Lanzen, die zustachen und sich wieder zurückzogen) und den schrecklichen Kopfschmerzen. Das Wasser war der Grund, weshalb sie krank war, und sie wusste, dass sie es ihnen sagen musste, denn sie mussten es wissen, damit sie sie wieder gesund machen konnten, aber ich darf es nicht erzählen, dachte sie, ich kann es nicht.
    Diese Gewissheit durchflutete sie mit traumgleicher Entschiedenheit. Während die Schwester sie durch den glänzenden Raumschiffkorridor schob, beugte sie sich vor und tätschelte Harriets Wange, und Harriet – krank und deshalb fügsamer als sonst – gestattete es klaglos. Es war eine weiche, kühle Hand mit goldenen Ringen.
    »Alles in Ordnung?«, fragte die Schwester, als sie Harriet
(Edies schnelle Schritte klapperten hinter ihnen hallend auf den Fliesen) in eine kleine, halb private Ecke schob und den Vorhang mit einem Ruck zuzog.
    Harriet ließ es über sich ergehen, dass ihr ein Krankenhauskittel angezogen wurde, und dann legte sie sich auf knisterndes Papier und ließ die Krankenschwester Fieber messen –
    du meine Güte!
    ja, die Kleine ist wirklich krank!
    – und Blut abnehmen. Dann setzte sie sich auf und trank gehorsam einen winzigen Becher von einer kreidig schmeckenden Medizin, die ihrem Magen gut tun würde, wie die Schwester sagte. Edie saß ihr gegenüber auf einem Schemel neben einem Glasschrank mit Medikamenten und einer Standwaage mit Schiebegewichten. Als die Schwester den Vorhang zugezogen hatte und weggegangen war, waren sie allein, und Edie stellte eine Frage, die Harriet nur halb beantwortete, weil sie zum Teil in diesem Raum war und den Kalkgeschmack der Medizin im Mund hatte, aber zum Teil auch in einem kalten Fluss schwamm, auf dem ein bösartiger Silberglanz lag wie Licht, Mondlicht auf Petroleum. Eine Tiefenströmung packte ihre Beine und riss sie mit sich, und ein schrecklicher alter Mann mit einer nassen Pelzmütze lief am Ufer entlang und schrie ihr Worte zu, die sie nicht hören konnte...
    »So. Dann setz dich mal hin, bitte.«
    Harriet schaute in das Gesicht eines Fremden im weißen Mantel. Er war kein Amerikaner, sondern ein Inder mit blauschwarzem Haar und melancholischen Augen mit schweren Lidern. Er fragte sie, ob sie wisse, wie sie heiße und wo sie sei; er leuchtete ihr mit einem dünnen Lichtstrahl ins Gesicht; er spähte ihr in die Augen, in die Nase, in die Ohren; er betastete ihren Bauch und ihre Achselhöhlen mit eiskalten Händen, vor denen sie zurückzuckte.
    »... ihr erster Anfall?« Wieder dieses Wort.
    »Ja.«
    »Hast du irgendetwas Komisches gerochen oder geschmeckt?« , fragte der Arzt Harriet.
    Der feste Blick seiner schwarzen Augen bereitete ihr Unbehagen. Sie schüttelte den Kopf.
    Mit zartem Zeigefinger hob der Arzt ihr Kinn. Harriet sah, dass seine Nasenflügel sich weiteten.
    »Tut dir der Hals weh?«, fragte er mit seiner Butterstimme.
    Aus weiter Ferne hörte sie Edie rufen: »Guter Gott, was hat sie denn da am Hals?«
    »Verfärbungen«, sagte der Arzt. Er strich sanft mit den Fingerspitzen darüber und drückte dann mit dem Daumen fest zu. »Tut das weh?«
    Harriet machte ein

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