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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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unten im Koma, und man rechnete nicht damit, dass er die Nacht überleben würde.
    Eugene blieb am Stationszimmer stehen, dem Aufzug gegenüber. Er lehnte sich an die Theke und tat eine Zeit lang so, als betrachte er eine Fotocollage und dann eine Grünlilie in einem Geschenkkorb, und er wartete. Dufresnes. Schon vor seiner kurzen Unterhaltung mit der Schwester hatte die Episode auf dem Flur (und vor allem die alte Lady, deren scharfer Tonfall nach Geld und Baptisten roch) ihn davon überzeugt, dass das Kind keins von Odums Gören war – und das war schade, denn wenn das Mädchen zu Odum gehört hätte, dann hätte das gut zu bestimmten Vermutungen gepasst, die er hegte. Odum hatte guten Grund, sich an Farish und Danny zu rächen.
    Jetzt kam die Schwester aus dem Zimmer des Kindes, und sie warf Eugene einen Blick zu. Sie war ein hübsches Mädchen, aber mit Lippenstift und Schminke beschmiert wie eine Irre. Eugene wandte sich mit einem lässigem Winken ab und schlenderte davon, den Flur entlang, die Treppe hinunter, vorbei an der Nachtschwester (der die Schreibtischlampe gespenstisch ins Gesicht heraufleuchtete), hinunter zum fensterlosen Warteraum der Intensivstation, wo beschirmte Lampen rund um die Uhr gedämpft leuchteten und wo Gum und Curtis auf der Couch schliefen. Es hatte keinen Sinn, oben herumzuhängen und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er würde wieder hinaufgehen, wenn die bemalte Nutte Dienstschluss hätte.

    Allison lag zu Hause im Bett auf der Seite und starrte durch das Fenster zum Mond hinaus. Harriets leeres Bett – abgezogen, die vom Erbrochenen getränkten Laken in einem Haufen auf dem Boden – war ihr kaum bewusst. Im Geiste sang sie vor sich hin, aber es war weniger ein Lied als eine improvisierte Serie von leisen Tönen, die sich in Variationen auf und ab bewegten, monoton und unaufhörlich wie der Gesang eines traurigen, unbekannten Nachtvogels. Ob Harriet da war oder nicht, war ihr ziemlich gleichgültig; doch nun, ermutigt von der Stille auf der anderen Seite des Zimmers, fing sie an, laut zu summen, wahllos aneinander gereihte Noten und Phrasen, die sich spiralig in die Dunkelheit zogen.
    Der Schlaf, sonst Allisons Zuflucht, wollte nicht kommen. Also lag sie auf der Seite, mit offenen Augen und ohne Sorgen, und summte im Dunkeln vor sich hin, und Schlaf war ein unbedeutender, ferner Schemen, ein Kräuseln wie Rauch auf verlassenen Dachböden, ein Singen wie das Meer im Perlglanz einer Muschel.

    Edie erwachte auf ihrer Pritsche neben Harriets Bett, weil ihr Licht ins Gesicht fiel. Es war schon spät, ihre Armbanduhr zeigte Viertel nach acht, und sie hatte um neun einen Termin beim Steuerberater. Sie stand auf und ging ins Bad, und ihr blasses, erschöpftes Gesicht im Spiegel ließ sie einen Moment innehalten: Es lag hauptsächlich am Licht der Leuchtstoffröhren, aber trotzdem...
    Sie putzte sich die Zähne und machte sich tapfer an ihr Gesicht: zog sich die Brauen nach, schminkte die Lippen. Edie hatte kein Vertrauen zu Ärzten. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sie nicht zuhörten, sondern lieber herumstolzierten und so taten, als hätten sie auf alles eine Antwort. Sie zogen voreilige Schlüsse, sie ignorierten alles, was nicht in ihre Theorien paßte. Und dieser Arzt war außerdem auch noch ein Ausländer. Sowie er das Wort Anfall gehört hatte, dieser Dr. Dagoo oder wie er heißen mochte, waren die anderen Symptome bei dem Kind zur Bedeutungslosigkeit verblasst; sie waren
»unklar«. Unklar, dachte Edie, als sie aus dem Badezimmer kam und ihre schlafende Enkelin betrachtete (mit aufmerksamer Neugier, als wäre Harriet ein kranker Strauch oder eine aus mysteriösen Gründen welkende Zimmerpflanze), unklar, weil Epilepsie nicht das ist, was sie hat.
    Mit akademischem Interesse studierte sie Harriet noch ein Weilchen, und dann kehrte sie ins Badezimmer zurück, um sich anzuziehen. Harriet war ein robustes Kind, und Edie war nicht schrecklich besorgt um sie, höchstens in einer sehr allgemeinen Hinsicht. Was ihr allerdings durchaus Sorgen machte  – und was sie bis tief in die Nacht hinein auf ihrer Pritsche wach gehalten hatte –, waren die katastrophalen Zustände im Haus ihrer Tochter. Wenn sie es sich jetzt überlegte, war Edie eigentlich nicht mehr im oberen Stockwerk gewesen, seit Harriet ein Baby gewesen war. Charlotte war eine Packratte; sie hob alles auf, und diese Neigung (das wusste Edie) hatte sich nach Robins Tod verstärkt. Aber es war doch ein tüchtiger

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