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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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jemanden zu hassen, Schatz – nur weil sie dich in der Sonntagsschule nicht für eine tote Katze beten lässt.« »Wieso nicht? Wir mussten auch dafür beten, dass Sissy und Annabel Arnold den Twirling-Wettbewerb gewinnen.« »Dafür mussten wir bei Mr. Dial auch beten«, sagte Harriet. »Das kommt, weil ihr Vater Diakon ist.«
    Vorsichtig balancierte Allison ihre Zitronenscheibe auf dem Tellerrand. »Ich hoffe, sie lassen ihre Feuerstöcke fallen«, sagte sie. »Ich hoffe, der ganze Laden brennt ab.«
    »Hört mal, Mädchen«, sagte Charlotte unbestimmt in die darauf folgende Stille hinein. Ihre Gedanken – die nie vollständig
mit der Katze und der Kirche und dem Twirling-Wettbewerb beschäftigt gewesen waren – weilten bereits woanders. »Seid ihr schon in der Klinik gewesen, um euch die Typhusimpfung abzuholen?«
    Als keins der beiden Kinder antwortete, fuhr sie fort: »Ich möchte, dass ihr auf jeden Fall daran denkt, gleich Montag früh hinzugehen und euch impfen zu lassen. Auch gegen Tetanus. In Kuhtümpeln baden und den ganzen Sommer hindurch barfuß laufen ...«
    Ihre Stimme verlor sich wohlig, und sie aß wieder weiter. Harriet und Allison blieben stumm. Noch nie in ihrem Leben hatte eine von ihnen in einem Kuhtümpel gebadet. Ihre Mutter dachte an ihre eigene Kindheit und vermischte sie mit der Gegenwart – was in letzter Zeit immer häufiger vorkam –, und keins der Mädchen wusste genau, wie sie darauf reagieren sollten.

    Immer noch in ihrem Sonntagskleid mit dem Gänseblümchenmuster, das sie seit dem Morgen anhatte, tappte Harriet im Dunkeln die Treppe hinunter. Ihre weißen Söckchen waren unter den Fußsohlen schmutzig grau. Es war halb zehn, und ihre Mutter und Allison waren seit einer halben Stunde im Bett.
    Allisons Schlafsucht war, anders als die ihrer Mutter, natürlich und nicht narkotisch bedingt. Sie war am glücklichsten, wenn sie schlief, den Kopf unter dem Kissen vergraben; sie sehnte sich den ganzen Tag nach ihrem Bett und ließ sich hineinfallen, sowie es halbwegs dunkel war. Aber Edie, die nachts selten mehr als sechs Stunden schlief, ärgerte sich über die Faulenzerei und das Rumgelungere in den Betten. Charlotte nahm seit Robins Tod irgendwelche Tranquilizer, und es führte zu nichts, mit ihr darüber zu reden, aber bei Allison stellte sich die Sache doch ganz anders dar. In der Annahme, es könne eine Mononukleose oder eine Hepatitis vorliegen, hatte sie Allison mehrmals gezwungen, zur Blutuntersuchung zum Arzt zu gehen, stets mit negativem Bescheid. »Sie ist ein heranwachsender
Teenager«, sagte der Arzt zu Edie. »Teenager brauchen viel Ruhe.«
    »Aber sechzehn Stunden!« Edie war erzürnt. Ihr war durchaus bewusst, dass der Arzt ihr nicht glaubte. Sie hatte überdies – zu Recht – den Verdacht, dass er es war, der Charlotte die Drogen verschrieb, von denen sie ständig so groggy war, was immer es sein mochte.
    »Und wenn es siebzehn wären«, antwortete Dr. Breedlove. Er saß mit einer weißbekittelten Hinterbacke auf seinem voll gepackten Schreibtisch und musterte Edie mit klinischem Fischblick. »Wenn das Mädchen schlafen will, lassen Sie sie schlafen.«
    »Aber wie kannst du es aushalten, so viel zu schlafen?«, hatte Harriet ihre Schwester einmal neugierig gefragt.
    Allison zuckte die Achseln.
    »Ist das nicht langweilig?«
    »Ich langweile mich nur, wenn ich wach bin.«
    Wie sich das anfühlte, wusste Harriet. Ihre eigene Langeweile war mitunter so betäubend, dass ihr ganz schlecht und schwindlig wurde, als wäre sie chloroformiert worden. Aber jetzt gerade war sie aufgeregt bei dem Gedanken an die einsamen Stunden, die vor ihr lagen, und im Wohnzimmer ging sie nicht zum Waffenschrank, sondern zum Schreibtisch ihres Vaters.
    Es gab massenhaft interessante Dinge in der Schreibtischschublade ihres Vaters (Goldmünzen, Geburtsurkunden, Dinge, von denen sie die Finger zu lassen hatte). Nachdem sie in ein paar Schachteln mit Fotos und entwerteten Schecks gewühlt hatte, fand sie schließlich, was sie suchte: eine Stoppuhr aus schwarzem Plastik – ein Werbegeschenk von einer Kreditvermittlung  – mit einem roten Digitaldisplay
    Sie setzte sich auf das Sofa, schlang einen tiefen Atemzug herunter und drückte auf den Startknopf. Houdini hatte trainiert, minutenlang den Atem anzuhalten, und es war dieser Trick gewesen, der viele seiner größten Kunststücke erst möglich gemacht hatte. Jetzt würde sie sehen, wie lange sie die Luft anhalten könnte, ohne

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