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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Wagentür zugeschlagen wurde.
    Pemberton lachte bellend. Sein Haar leuchtete aschenputtelgelb im Licht der Straßenlaternen; es war so lang, dass er aussah wie ein Mädchen, als es ihm ins Gesicht fiel und nur die scharfe kleine Spitze seiner Nase herausragte. »Glaub das ja nicht, Darling«, sagte er.
    Darling? Was sollte denn das heißen? Harriet ließ die Gardine fallen und schob ihr Notizbuch unters Bett, während Allison hinten um den Wagen herum auf das Haus zukam. Ihre nackten Knie leuchteten rot im grellen Bremslicht des Cadillac.
    Die Haustür fiel zu. Pems Wagen fuhr röhrend davon. Allison kam die Treppe heraufgetappt – immer noch barfuß, denn sie war ohne Schuhe weggefahren – und schwebte ins Schlafzimmer. Ohne Harriet zur Kenntnis zu nehmen, ging sie geradewegs zum Kommodenspiegel, bis ihre Nasenspitze nur wenige Zoll vom Glas entfernt war, und betrachtete ernst ihr Gesicht. Dann setzte sie sich auf ihre Bettseite und klopfte sich sorgfältig die Kiesbröckchen ab, die an ihren gelblichen Fußsohlen klebten.
    »Wo warst du?«, fragte Harriet.
    Allison zog sich das Kleid über den Kopf und gab ein vieldeutiges Geräusch von sich.
    »Ich hab dich wegfahren sehen. Wo warst du?«, fragte Harriet, als ihre Schwester nicht antwortete.
    »Ich weiß nicht.«
    »Du weißt nicht, wo du warst?« Harriet starrte Allison an, die immer wieder zu ihrem Spiegelbild hinüberschaute, während sie in ihre weiße Pyjamahose stieg. »Hat’s denn Spaß gemacht?«
    Allison wich Harriets Blicken sorgfältig aus; sie knöpfte sich die Pyjamajacke zu, ging ins Bett und fing an, ihre Stofftiere um sich herum zu arrangieren. Dann zog sie sich die Decke über den Kopf.
    »Allison?«
    »Ja?«, kam ein oder zwei Augenblicke später die gedämpfte Antwort.
    »Weißt du noch, worüber wir gesprochen haben?«
    »Nein.«
    »Doch, weißt du doch. Dass du deine Träume aufschreiben sollst?«
    Als sie keine Antwort bekam, sprach Harriet lauter. »Ich hab dir ein Blatt Papier neben das Bett gelegt. Und einen Bleistift. Hast du das gesehen?«
    »Nein.«
    »Dann sieh nach. Sieh nach , Allison.«
    Allison streckte den Kopf gerade so weit unter der Decke hervor, dass sie neben ihrer Nachttischlampe ein Blatt Papier aus einem Spiralblock sehen konnte. Am oberen Rand stand in Harriets Handschrift: Träume. Allison Dufresnes. 12. Juni.
    »Danke, Harriet«, sagte sie undeutlich, und bevor Harriet noch ein Wort herausbekam, zog sie die Decke wieder über sich, warf sich herum und drehte das Gesicht zur Wand.
    Harriet starrte ein paar Augenblicke lang unverwandt auf den Rücken ihrer Schwester, und dann langte sie unter das Bett und holte ihr Buch hervor. Am Vormittag hatte sie sich Notizen über die Berichterstattung in der Lokalzeitung gemacht. Vieles davon war ihr neu gewesen: die Entdeckung der Leiche, die Wiederbelebungsversuche (anscheinend hatte Edie ihn mit der Heckenschere vom Baum abgeschnitten und den leblosen Körper bearbeitet, bis der Rettungswagen gekommen war), der Zusammenbruch ihrer Mutter und ihre Einlieferung ins Krankenhaus und die Bemerkungen des Sheriffs in den folgenden Wochen (»keine Spuren«, »frustrierend«). Außerdem hatte sie notiert, was sie von Pems Äußerungen im Gedächtnis behalten hatte, egal ob wichtig oder nicht. Und je mehr sie geschrieben hatte, desto mehr war ihr eingefallen, alle möglichen,
bunt zusammengewürfelten Kleinigkeiten, die sie im Laufe der Jahre hier und da aufgeschnappt hatte. Dass Robin nur ein paar Wochen vor den Sommerferien gestorben war. Dass es an dem Tag geregnet hatte. Dass es um diese Zeit in der Gegend kleinere Einbrüche gegeben hatte, bei denen Werkzeug aus Gartenschuppen gestohlen worden war: ein Zusammenhang? Dass Robins Leichnam im Garten gefunden worden war, als eben der Abendgottesdienst in der Baptistenkirche zu Ende war, und dass einer der Ersten, die zu Hilfe gekommen waren, Dr. Adair gewesen war, ein pensionierter Kinderarzt, schon über achtzig, der mit seiner Familie auf dem Heimweg vorbeigefahren war. Dass ihr Vater in seinem Jagdcamp gewesen war, und dass der Prediger sich hatte ins Auto setzen und hinfahren müssen, um ihn zu suchen und zu benachrichtigen.
    Selbst wenn ich nicht herausfinde, wer ihn umgebracht hat, dachte sie, werde ich wenigstens herausfinden, wie es passiert ist.
    Sie hatte auch den Namen ihres ersten Verdächtigen. Der bloße Akt des Aufschreibens ließ sie erkennen, wie leicht es sein würde, etwas zu vergessen, und wie wichtig es war, von

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