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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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geklettert und heruntergesprungen war, wieder und wieder. Der Aufschlag verschlug ihr meistens den Atem. Sobald der Schock verklungen war, hatte sie sich den Staub abgeklopft und war wieder hinaufgeklettert und hinuntergesprungen. Immer wieder. Sie hatte einen Traum gehabt, in dem sie das Gleiche getan hatte, nur war sie in diesem Traum nicht auf der Erde gelandet.
Stattdessen hatte ein warmer Wind sie aus dem Gras gehoben und in die Luft hinaufgetragen; sie war geflogen, und ihre nackten Zehen hatten die Baumwipfel gestreift. Schnell war sie vom Himmel herabgestürzt, wie eine Schwalbe fünf oder sechs Meter weit über den Rasen gestrichen und wieder aufgestiegen, steil in die Höhe, kreisend in Schwindel erregender Weite. Aber da war sie klein gewesen und hatte den Unterschied zwischen Träumen und Leben nicht gekannt, und deshalb war sie immer wieder von dem Baum gesprungen. Wenn sie oft genug spränge, hatte sie gehofft, würde der warme Wind aus ihrem Traum unter sie greifen und sie in den Himmel heben. Aber natürlich geschah das nicht. Sprungbereit auf dem hohen Ast stehend, hatte sie Ida Rhew auf der Veranda aufheulen hören und voller Panik auf den Baum zulaufen sehen. Und dann hatte Allison gelächelt und war trotzdem gesprungen, und Idas verzweifelter Aufschrei kribbelte ihr köstlich in der Magengrube, während sie fiel. So oft war sie gesprungen, dass sie sich den Fußrist gebrochen hatte, und es war ein Wunder, dass sie sich nicht auch den Hals gebrochen hatte.
    Die Abendluft war warm, und die mottenfahlen Gardenienblüten verströmten einen schweren, warmen, trunken machenden Duft. Allison gähnte. Wie konnte man je genau wissen, wann man träumte und wann man wach war? Im Traum glaubte man, wach zu sein, aber man war es nicht. Und auch wenn Allison jetzt das Gefühl hatte, sie sei wach und sitze barfuß mit einem kaffeefleckigen Buch neben sich auf der Veranda, musste das nicht heißen, dass sie nicht oben in ihrem Bett lag und das alles träumte: die Veranda, die Gardenien, alles.
    Tagsüber, wenn sie durch das Haus oder mit ihren Büchern unter dem Arm durch die frostigen, antiseptisch riechenden Flure der High School wandelte, fragte sie sich immer wieder: Bin ich wach, oder schlafe ich? Wie bin ich hierher gekommen?
    Oft, wenn sie sich ganz plötzlich erschrocken (zum Beispiel) im Biologieunterricht wiederfand (Insekten, auf Nadeln gespießt, der rothaarige Mr. Peel, der sich über die Interphase der Zellteilung verbreitete), konnte sie feststellen, ob sie träumte oder nicht, indem sie die Spule ihrer Erinnerung zurückdrehte.
Wie bin ich hergekommen, dachte sie dann benommen. Was hatte sie zum Frühstück gegessen? Hatte Edie sie zur Schule gefahren, hatte es eine Folge von Ereignissen gegeben, die sie hierher zu diesen dunkel getäfelten Wänden, in dieses morgendliche Klassenzimmer geführt hatte? Oder war sie noch einen Augenblick zuvor irgendwo anders gewesen – auf einem einsamen Feldweg, oder zu Hause im Garten, mit einem gelben Himmel und etwas Weißem, das sich davor blähte wie ein Bettlaken?
    Darüber dachte sie dann angestrengt nach und kam zu dem Schluss, dass sie nicht träumte. Denn die Wanduhr zeigte Viertel nach neun, und um diese Zeit hatte sie Biologie, und sie saß immer noch in alphabetischer Reihenfolge hinter Maggie Dalton und vor Richard Echols, und die Styroportafel mit den aufgespießten Insekten, in der Mitte der pudrige Kometenfalter, hing immer noch an der hinteren Wand zwischen einem Plakat mit einem Katzenskelett und einem mit dem zentralen Nervensystem.
    Aber manchmal, zu Hause meistens, bemerkte Allison zu ihrer Beunruhigung winzige Mängel und Fehler im Gewebe der Realität, für die es keine logische Erklärung gab. Die Rosen hatten die falsche Farb: Rot, nicht Weiß. Die Wäscheleine war nicht da, wo sie hingehörte, sondern wo sie gewesen war, bevor der Sturm sie vor fünf Jahren heruntergerissen hatte. Der Schalter einer Lampe war geringfügig anders oder an der falschen Stelle. Auf Familienfotos oder vertrauten Gemälden standen geheimnisvolle Gestalten im Hintergrund, die sie vorher nie bemerkt hatte. Erschreckende Reflexe im Wohnzimmerspiegel hinter einer freundlichen Familienszene. Eine Hand, die aus einem offenen Fenster winkte.
    Aber nein , sagte ihre Mutter oder Ida, wenn Allison auf diese Dinge hinwies. Sei nicht albern. Das war immer schon so.
    Immer schon wie? Sie wusste es nicht. Ob sie schlief oder wach war, die Welt war ein trügerisches Spiel:

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