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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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auf, und die Bretter der Verandadecke kamen zur Ruhe. In der gläsernen Stille lag sie da und dachte nach. Wenn sie nicht gekommen wäre, wäre der Vogel trotzdem gestorben, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie es war, die ihn getötet hatte.
    Das Buch lag aufgeschlagen auf den Bodendielen. Sie drehte sich auf den Bauch, um danach zu greifen. Ein Auto bog um die Ecke und fuhr die George Street hinunter, und als der Scheinwerferstrahl über die Veranda strich, beleuchtete er eine Illustration im Buch, die die Weiße Kobra zeigte, wie ein Straßenschild, das plötzlich nachts aufstrahlt. Darunter stand:
     
    Sie kamen vor vielen Jahren, um den Schatz zu holen. Ich sprach mit ihnen im Dunkeln, und sie Lagen still.
     
    Harriet drehte sich wieder auf den Rücken und lag ein paar Minuten lang ganz still, ehe sie mit knirschenden Gelenken aufstand und die Arme über den Kopf streckte. Dann humpelte sie ins Haus und durch das zu helle Esszimmer, wo Allison allein am Tisch saß und aus einer weißen Schüssel kalte Stampfkartoffeln aß.
    Kipling hatte noch mehr Kobras beschrieben, und in seinen Geschichten waren sie immer herzlos, aber sie sprachen wunderschön, ganz wie die bösen Könige im Alten Testament.
    Harriet ging weiter in die Küche, zum Telefon an der Wand, und wählte Helys Nummer. Es klingelte viermal. Fünfmal. Dann nahm jemand ab. Wirre Geräusche im Hintergrund. »Nein, ohne siehst du besser aus«, sagte Helys Mutter zu jemandem. Dann, in die Muschel: »Hallo?«
    »Harriet hier. Kann ich bitte mit Hely sprechen?«
    »Harriet! Aber natürlich kannst du, Herzchen...« Der Hörer polterte herab. Harriet, deren Augen sich immer noch nicht an das Licht gewöhnt hatten, betrachtete blinzelnd den Esszimmerstuhl, der vor dem Kühlschrank stand. Helys Mutter überraschte sie immer wieder mit ihren Kosenamen: Herzchen war nicht das, was die Leute im Allgemeinen zu Harriet sagten.
    Unruhe: das Scharren eines Stuhl über den Boden, Pembertons viel sagendes Lachen. Helys gereiztes Winseln erhob sich durchdringend.
    Eine Tür schlug zu. »Hey!« Seine Stimme klang schroff, aber aufgeregt. »Harriet?«
    Sie klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und drehte sich zur Wand. »Hely, wenn wir es versuchen, glaubst du, wir können eine Giftschlange fangen?«
    Es folgte ein ehrfurchtsvolles Schweigen, bei dem Harriet voller Genugtuung erkannte, dass er genau verstanden hatte, worauf sie hinauswollte.

    »Kupferköpfe? Mokassinschlangen? Welche sind giftiger?«
    Nur ein paar Stunden später saßen sie im Dunkeln auf der Hintertreppe bei Harriet. Hely hatte fast den Verstand verloren, während er darauf warten musste, dass der Geburtstagstrubel nachließ, damit er sich aus dem Haus schleichen und zu ihr kommen konnte. Seine Mutter, misstrauisch geworden durch seine plötzliche Appetitlosigkeit, hatte voreilig den demütigenden Schluss gezogen, dass er an Verstopfung leide, und ihn daraufhin eine Ewigkeit lang detailliert über seine Verdauung befragt und ihm Abführmittel angeboten. Als sie ihm schließlich widerstrebend einen Gutenachtkuss gegeben hatte und mit seinem Vater nach oben gegangen war, hatte er
mindestens eine halbe Stunde lang mit offenen Augen steif unter seiner Decke gelegen, so aufgedreht, als hätte er einen ganzen Eimer Coca-Cola getrunken, als hätte er eben den neuen James-Bond-Film gesehen, als wäre Weihnachten.
    Sich aus dem Haus zu schleichen – auf Zehenspitzen durch den Flur zu huschen, behutsam die knarrende Hintertür aufzuschieben, Zoll für Zoll – hatte ihn noch weiter unter Strom gesetzt. Nach der surrenden, klimatisierten Kühle seines Zimmers war die Nachtluft besonders drückend und heiß; die Haare klebten ihm im Nacken, und er war immer noch atemlos. Harriet saß auf der Stufe unter ihm, das Kinn auf die Knie gestützt, und aß eine kalte Hühnerkeule, die er ihr mitgebracht hatte.
    »Was ist denn der Unterschied zwischen Kupferkopf und Mokassinschlange?«, fragte sie. Ihre Lippen glänzten im Mondlicht ein wenig fettig von dem Hühnchen.
    »Ich dachte, das ist ein und dasselbe Ding«, sagte Hely. Er war überglücklich.
    »Nein, es sind zwei verschiedene Schlangen.«
    »Eine Wassermokassinschlange wird dich angreifen, wenn sie Lust hat.« Mit Freude wiederholte er Wort für Wort, was Pemberton zwei Stunden zuvor gesagt hatte, als Hely ihn danach gefragt hatte. Hely hatte eine Heidenangst vor Schlangen und schaute sich nicht einmal die Schlangenbilder im Lexikon

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