Der kleine Lord
alles
erzählen!«
Zuweilen, wenn das Wetter schlecht war und man im Salon
beisammen saß, gab Cedrik, der immer bereit war, das Seinige
zur Unterhaltung beizutragen, Jerrys »Verlebnisse«
preis, wobei er sehr aufmerksame Zuhörer fand.
»Jerrys Geschichten 'tressieren alle so,«
sagte er dann zu seinem Mütterchen. »Manchmal denke
ich beinahe – du mußt nicht böse sein,
Herzlieb – es könnte nicht alles dran wahr sein,
aber doch hat Jerry es selbst erlebt, aber, weißt du,
vielleicht weiß er's hier und da nicht mehr so genau, weil er
so oft skalpiert worden ist. Skalpiert werden, davon kann man ein
schlechtes Gedächtnis kriegen.«
Elf Tage, nachdem er Dick sein Lebewohl zugerufen hatte, traf
der kleine Lord in Liverpool ein, und am Abend des zwölften
Tages fuhr der Wagen, der ihn, seine Mutter und Mr. Havisham an der
Bahn abgeholt hatte, an Court Lodge vor.
Mary, die zu Mrs. Errols Bedienung mit
herübergekommen war, hatte das Haus schon etwas
früher erreicht, und als Cedrik aus dem Wagen sprang, sah er
einige Dienstboten in der glänzend erleuchteten Halle stehen,
Mary aber unter der Hausthür. Mit einem fröhlichen
Ausrufe eilte er auf sie zu und küßte sie auf die
knallroten Wangen.
»Bist du schon da, Mary? Herzlieb, Mary ist
da!«
»Ich bin froh, daß Sie da sind,
Mary,« sagte Mrs. Errol halblaut zu ihr. »Ich
fühle mich weit weniger fremd, nun ich ein bekanntes Gesicht
um mich habe.« Dabei reichte sie ihr die schmale Hand, die
Mary kräftig schüttelte. Ach, sie verstand wohl, wie
der jungen Frau zu Mute sein mußte, die ihre Heimat verlassen
hatte und nun ihr Kind hergeben sollte.
Die englischen Dienstboten beobachteten Mutter und Sohn mit
großer Neugierde. Alle möglichen Gerüchte
waren natürlich über die beiden im Umlauf; jedermann
wußte, weshalb Mrs. Errol hier wohnen mußte, und der
kleine Lord im Schlosse, jedermann wußte genau, welch
ungeheures Vermögen seiner harrte und was für ein
jähzorniger Großvater mit Gichtanfällen und
bösen Launen.
»Leicht kriegt er's nicht, der arme kleine
Kerl!« Das hatten sie längst untereinander ausgemacht.
Was es aber für eine Art von Kind war, dieser Lord
Fauntleroy, das wußten sie nicht, und das Wesen des
künftigen Herrn von Dorincourt war für sie eben nicht
leicht verständlich. Er zog sehr selbständig seinen
kleinen Ueberrock aus, gerade, als ob er gewöhnt
wäre, sich selbst zu bedienen, und dann sah er sich um in der
weiten Halle, betrachtete die Bilder und die Hirschgeweihe und alle
möglichen Dinge, die ihm sehr merkwürdig vorkamen,
weil er noch nichts derartiges gesehen hatte.
»Herzlieb,« rief er, »das ist ja
ein goldiges Haus, nicht wahr? Ich bin so froh, daß du da
wohnst! Und ein ganz großes Haus ist es!«
Freilich war es groß im Vergleiche mit dem
engbrüstigen Gebäude in der ärmlichen New
Yorker Straße, und hübsch und freundlich war es auch.
Mary führte die Ankömmlinge hinauf in ein helles,
ganz mit buntem Kattun tapeziertes und ausgestattetes Schlafzimmer, wo
ein fröhliches Feuer brannte und eine riesengroße,
schneeweiße Angorakatze behaglich hingestreckt auf dem Teppich
vor dem Kamine lag.
»Die Haushälterin vom Schlosse schickt
sie,« erklärte Mary. »Die ist eine brave
Dame und hat überall nach dem Rechten gesehen und alles
eingerichtet. Ich hab' sie auch schon gesehen, und sie hat den Herrn
Kapitän selig arg gern gehabt und ist betrübt,
daß er tot ist, und dann hat sie gesagt, 's könne
leicht sein, daß die Katze Ihnen die Stube heimeliger macht,
wenn sie so faul daliegt. Den Herrn Kapitän selig hat sie
schon gekannt, wie er ein Kind war, und er sei ein schöner
Jung' gewesen, sagte sie, und dann ein feiner Herr, der auch
für geringe Leute ein gutes Wort gehabt hat. Da hab' ich zu
ihr gesagt: ›Er hat gerade so einen Sohn
zurückgelassen‹ ja und dann hab' ich gesagt:
›Kein hübscherer Junge hat je Schuhe zerrissen,
solange die Welt steht.‹«
Nachdem Mutter und Sohn etwas Toilette gemacht, gingen sie
wieder ins Erdgeschoß in ein ebenfalls großes, helles
Zimmer. Die Decke war getäfelt, der Raum nicht hoch, die
tiefen, breiten Stühle hatten hohe geschnitzte Lehnen, und
allerhand kleine Wandschränkchen, Schlüsselbretter
und eigentümliche Verzierungen waren in den ebenfalls
getäfelten Wänden angebracht; vor dem Kamin lag ein
mächtiges Tigerfell und zwei bequeme Lehnstühle
standen zu beiden Seiten.
Weitere Kostenlose Bücher