Der kleine Lord
wußte sie auch, und die
Lebensgeschichte des braunen Pony und des dazu gehörigen
kleinen Groom war ihr ebenfalls geläufig. Natürlich
war der weibliche Teil der Dienerschaft vollkommen einig
darüber, daß es ein Verbrechen sei, den
hübschen kleinen Kerl von seiner Mutter zu trennen, und samt
und sonders hatten sie »an allen Gliedern gezittert«,
als das Kind so mutterseelenallein in die Löwenhöhle,
respektive Bibliothek, hatte geführt werden müssen,
da doch kein Mensch wissen konnte, wie er dort behandelt werden
würde.
»Aber ich kann Ihnen nur sagen, Mrs.
Jennifer,« setzte Mrs. Dibble hinzu, »das Kind
weiß nicht, was Angst heißt! Mr. Thomas hat's selbst
erzählt, kommt der Junge hinein und setzt sich hin und spricht
mit dem alten Grafen, als ob ihm das gar nichts Besondres wäre
und als ob sie gute Freunde wären. Der, sagt Mr. Thomas, habe
nur so aufgehorcht und ihn unter seinen Augenbrauen hervor angestarrt.
Und Mr. Thomas sagt, denken Sie nur, Mrs. Bates, daß, so
bös der Alte auch ist, er doch im stillen vergnügt
gewesen sei und ganz stolz, denn einen hübscheren Jungen und
mit bessern Manieren, nur hier und da ein wenig altväterisch,
habe er seiner Lebtage nicht gesehen, sagt Mr. Thomas.«
Dann war noch die Geschichte mit Higgins dazu gekommen, und
Newick selbst hatte zwei oder drei Leuten das mit
»Fauntleroy« unterzeichnete Schreiben gezeigt, so
daß der Gesprächsstoff gar nicht ausging und am
Sonntag alles zusammenströmte, um womöglich den neuen
kleinen Lord selbst in Augenschein zu nehmen.
Der Graf war kein sehr eifriger Kirchgänger, aber an
diesem ersten Sonntag gefiel es ihm, beim Gottesdienst zu erscheinen:
Fauntleroy in dem großen Kirchenstuhle neben sich sitzen zu
haben, hatte einen gewissen Reiz für ihn.
Man stand heute lange plaudernd auf dem Kirchhofe umher; an
der Kirchenthür und draußen auf dem Wege,
überall bildeten sich Gruppen, und die Frage, ob Mylord kommen
werde oder nicht, wurde immer wieder aufgeworfen und besprochen.
Plötzlich stieß eins der Frauen die andre an
– »dort,« flüsterte sie,
»das muß die Mutter sein, das arme junge
Ding.«
Aller Augen richteten sich auf die schlanke Gestalt in
schwarzer Kleidung, die den Fußweg herauf kam. Sie hatte den
Schleier zurückgeschlagen, so daß man das
süße, liebliche Gesicht und das lockige Haar, das
weich und schimmernd unter dem Hute der jungen Witwe hervorquoll,
deutlich sehen konnte.
Sie nahm die Leute nicht wahr, die sie anstarrten –
sie dachte an Cedrik und seine Besuche, sein Glück
über den eignen Pony und an sein liebes strahlendes Gesicht.
Nach einiger Zeit aber ward sie sich doch bewußt, daß
sie der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit war. Zuerst fiel ihr eine
alte Frau in einem roten Mantel auf, die ihr einen Knicks machte, dann
kam eine andre, die desgleichen that und dazu »Gott segne,
Mylady!« sagte, und alle Männer nahmen die
Hüte ab, als sie vorbeiging. Im ersten Augenblicke begriff sie
die Sache nicht recht, dann aber ward ihr klar, daß diese Art
von Huldigung der Mutter des kleinen Lords gelte, und ziemlich
schüchtern und leise errötend erwiderte sie die
Grüße und sagte mit sanfter Stimme zu der Frau, die
ihr Segen gewünscht hatte: »Ich danke
Ihnen.« Für jemand, der sein lebenlang im Hasten und
Treiben einer amerikanischen Großstadt gestanden hat, waren
diese ländlichen Ehrfurchtsbezeigungen befremdend und fast
peinlich, schließlich thaten sie ihr aber doch wohl und die
Warmherzigkeit, von der sie zeugten, rührte sie.
Kaum war sie in die kleine Kirche getreten, als das
große, mit so viel Spannung erwartete Ereignis vor sich ging:
Der Wagen vom Schlosse bog um die Ecke.
»Sie kommen,« flog es von Mund zu Munde.
Thomas stieg ab, riß den Schlag auf, und ein kleiner
Junge in schwarzem Samt mit einer schimmernden, blonden Mähne
sprang heraus.
»Auf und nieder der Kapitän,«
hieß es unter den älteren Zuschauern. »Sein
leibhaftiger Vater.«
Da stand er im hellen Sonnenscheine und beobachtete mit der
liebevollsten Sorgfalt, wie Thomas dem alten Herrn beim Aussteigen
half, und sobald er die Gelegenheit gekommen glaubte, streckte er ihm
die Hand hin und bot seine Schulter zur Stütze, als ob er
sieben Schuh hoch wäre – Angst hatte der nicht vor
seinem Großvater, so viel war gewiß!
»Stütz dich nur auf mich!«
hörte man ihn mit seiner hellen Stimme sagen. »Wie
sich die Leute
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