Der kleine Nadomir
nicht. Sollte es ihm tatsächlich gelingen, den Schamanen zu heilen, so war es trotzdem höchst zweifelhaft, dass er und Nottr mit dem Leben davonkommen würden. Er wusste zwar herzlich wenig von den Sitten der wilden Karsh-Stämme, aber eines wusste er ganz sicher: Die Winter in den Bergen waren hart und lang. Oft reichten die Lebensmittelvorräte nicht aus, und er hatte Gerüchte von Menschenfresserei gehört.
»Beim Kleinen Nadomir«, brummte er, »ich soll ihnen schwer und lang im Magen liegenbleiben und ihnen gehöriges Bauchzwicken verursachen.«
Sadagar konnte sich nicht erinnern, wann er einmal so erbärmlich gefroren hatte. Sein Pelz war nass, und Schnee klebte in seinem Haar. Müde hob er den Kopf, als er lautes Schreien hörte. Einige Wilde liefen auf sie zu. Das Lager musste ganz nahe sein. Er blieb schnaufend stehen und schüttelte den Schnee aus dem Haar.
Etwa zwanzig Wilde waren es, die sie laut johlend umringten. Alle brüllten durcheinander.
Sadagar versuchte sie zu verstehen, doch er konnte nur Wortfetzen aufschnappen. Alle waren von der Jagdbeute begeistert. Die Männer und Frauen musterten Nottr und ihn verstohlen; die paar Halbwüchsigen, die mitgekommen waren, verhielten sich nicht so zurückhaltend. Sein helles Haar schien es ihnen angetan zu haben.
Er ertrug die neugierigen Blicke gelassen, denn er war überaus froh, dass er verschnaufen durfte. Sein Rücken und die Beine schmerzten.
Aber die Rast war nur sehr kurz. Bald ging es weiter. Zwei Jäger, die ihn besorgt anblickten, nahmen ihn in die Mitte. Tordo hatte irgend etwas zu ihnen gesagt, was er nicht verstanden hatte.
»Sollen wir dich tragen, Alter?« fragte der eine.
Eigentlich wäre das gar nicht so übel, überlegte Sadagar kurz. Aber sofort verwarf er diesen Gedanken. Nein, das kam nicht in Frage, das würde beim Stamm keinen guten Eindruck hinterlassen, da er ja als großer Schamane auftreten wollte.
»Nein, das ist nicht notwendig«, sagte er mit fester Stimme. Er versuchte zu grinsen, was ihm aber nicht gelang, da sein Gesicht zu einer Eismaske erstarrt war.
Die Flocken fielen nun nicht mehr so dicht. Weiterhin hielten sie sich im Schutz der Felswand. Nach ein paar Schritten erblickte er das Lager. Es bestand aus etwa zehn zeltartigen Hütten, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Dazwischen standen ein paar voll bepackte Schlitten, die teilweise kunstvoll verziert waren. An einigen Stangen waren pelzige, fremdartig aussehende Hunde angebunden, die alle wie verrückt kläfften, hochsprangen und sich loszureißen versuchten. Sie waren klein und gedrungen, ihr Fell war meist grau, aber einige waren schwarz gefärbt. Die Schwänze waren eigenartig eingedreht, fast wie bei Schweinen, und ihre Augen waren kornblumenblau und blickten heimtückisch.
*
Tordo lief voraus. Die Nachrichten, die er über Chwums Gesundheitszustand erhalten hatte, waren alles andere als erfreulich. Sein Befinden hatte sich noch verschlechtert. Er war bewusstlos, und es stand zu befürchten, dass er die heutige Nacht nicht mehr überleben würde.
Der Stamm hatte schon alle Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Die Erdgrubenhäuser waren geräumt worden, nur die Felle, die als Wände dienten, mussten abgenommen werden. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren, denn wenn es ihnen nicht gelang, bis morgen das Göttertor zu erreichen, war ihnen der direkte Weg zum Winterlager möglicherweise verschlossen. Es war schon öfters vorgekommen, dass Lawinen den Eingang des Tunnels verschüttet hatten. In so einem Fall mussten sie einen großen Umweg machen, der sie durch unwegsame Pässe führen würde, wo sie die Schlitten nicht verwenden konnten, die für eine schnelle Fahrt unerlässlich waren.
Tordo betrat das Lager. Er winkte den ihn begrüßenden Stammesmitgliedern kurz zu, dann betrat er eines der mit Perlen und Federn geschmückten Erdgrubenhäuser. Rasch stieg er die zwei Stufen hinunter.
Drinnen war es heiß. In der Mitte brannten Holzscheite in der Feuerstelle. Die Luft war stickig und roch nach Ausscheidungen und ungewaschenen Körpern. Auf einigen Felldecken lag der Schamane, der röchelnd atmete. Neben dem Lager hockte Olinga und murmelte beschwörend Zaubersprüche.
Langsam trat Tordo näher. Chwums Atem kam rasselnd. Sein hageres Gesicht war eingefallen, die Haut war gelb und faltig. Seine Lippen waren verzerrt, und Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Wie geht es Chwum?« fragte Tordo leise, als wollte er nicht die Ruhe des Sterbenden
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