Der Klient
Jerome Clifford«, berichtete Hardy in amtlichem Ton. »Er kam aus New Orleans, und wir haben keine Ahnung, weshalb er hierhergekommen ist. Dürfte jetzt seit ungefähr zwei Stunden tot sein, also noch nicht lange. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Was hat Ricky getan?« fragte Dianne.
»Also, wir sind heimgerannt, und er fiel auf die Couch und fing an, an seinem Daumen zu lutschen, und wollte nicht reden. Ich habe ihn ins Bett gebracht und zugedeckt.«
»Wie alt ist er?« fragte Hardy stirnrunzelnd. »Acht.«
»Darf ich ihn sehen?«
»Weshalb?« fragte Dianne.
»Ich mache mir Sorgen. Er hat irgendwas gesehen, und er könnte einen Schock erlitten haben.«
»Einen Schock?«
»Ja, Madam.«
Dianne ging schnell durch die Küche und den Flur entlang, dicht gefolgt von Hardy und Mark, der den Kopf schüttelte und die Zähne zusammenbiß.
Hardy zog die Decke von Rickys Schultern und berührte seinen Arm. Der Daumen war im Mund. Er schüttelte ihn, rief seinen Namen, und die Augen öffneten sich für eine Sekunde. Ricky murmelte etwas.
»Seine Haut ist kalt und feucht. Ist er krank gewesen?« fragte Hardy.
»Nein.«
Das Telefon läutete, und Dianne rannte zum Apparat. Vom Schlafzimmer aus hörten Hardy und Mark zu, wie sie den Arzt über die Symptome informierte und den Toten, den die Jungen gefunden hatten.
»Hat er etwas gesagt, als ihr den Toten gesehen habt?« fragte Hardy leise.
»Ich glaube nicht. Es ging alles ziemlich schnell. Wir – äh – wir sind einfach losgerannt, als wir ihn sahen. Er hat nur die ganze Zeit gestöhnt und gegrunzt und ist irgendwie komisch gelaufen, mit den Armen steif nach unten. Ich habe ihn noch nie so laufen sehen, und dann, sowie wir zu Hause waren, hat er sich zusammengerollt und kein Wort mehr geredet.«
»Wir müssen ihn in ein Krankenhaus schaffen«, sagte Hardy.
Marks Knie wurden weich, und er lehnte sich an die Wand. Dianne legte auf, und Hardy ging ihr bis in die Küche entgegen. »Der Arzt will ihn im Krankenhaus haben«, sagte sie in Panik.
»Ich rufe eine Ambulanz«, sagte Hardy, schon unterwegs zu seinem Wagen. »Packen Sie ein paar Sachen für ihn zusammen.« Er verschwand und ließ die Tür offenstehen.
Dianne funkelte Mark an, der sich schwach fühlte und sich hinsetzen mußte. Er sank auf einen Stuhl am Küchentisch.
»Sagst du die Wahrheit?« fragte sie.
»Ja, Mom. Wir sahen den Toten, und Ricky ist ausgerastet, und wir sind nach Hause gerannt.« Es würde Stunden dauern, zu berichten, wie es wirklich gewesen war. Sobald sie miteinander allein waren, würde er es sich vielleicht anders überlegen und die ganze Geschichte erzählen, aber jetzt war der Polizist hier, und es würde zu kompliziert sein. Er hatte keine Angst vor seiner Mutter und machte in der Regel reinen Tisch, wenn sie ihm zusetzte. Sie war erst dreißig, jünger als die Mütter seiner Freunde, und sie hatten eine Menge zusammen durchgemacht. Ihr gemeinsamer Kampf gegen den brutalen Vater hatte zwischen ihnen ein Band geschmiedet, das wesentlich stärker war als eine normale Mutter-Sohn-Beziehung. Es schmerzte, diese Sache vor ihr geheimhalten zu müssen. Sie war verängstigt und verzweifelt, aber die Dinge, die Romey ihm erzählt hatte, hatten mit Rickys Zustand nichts zu tun. Ein heftiger Schmerz zuckte durch seinen Magen, und das Zimmer drehte sich langsam.
»Was ist mit deinem Auge passiert?«
»Eine Prügelei in der Schule. Es war nicht meine Schuld.«
»Das ist es nie. Bist du okay?«
»Ich denke schon.«
Hardy stapfte über die Schwelle. »Die Ambulanz ist in fünf Minuten hier. Welches Krankenhaus?«
»Der Arzt hat gesagt, wir sollen zum St. Peter’s fahren.«
»Wer ist Ihr Arzt?«
»Shelby Pediatric Group. Sie sagten, sie würden veranlassen, daß ein Kinderpsychiater in das Krankenhaus kommt.« Sie zündete sich nervös eine Zigarette an. »Was meinen Sie, ist er okay?«
»Er muß in ärztliche Behandlung, vielleicht längere Zeit im Krankenhaus bleiben. Ich habe so etwas schon mehrfach erlebt bei Kindern, die Augenzeuge von Schießereien oder Messerstechereien waren. Es ist ein schweres Trauma, und es kann eine Weile dauern, bis er es überwunden hat. Im vorigen Jahr war da ein Kind, das mit angesehen hat, wie seine Mutter von einem Crack-Dealer erschossen wurde, in einer der Siedlungen mit Sozialwohnungen, und der arme kleine Kerl liegt noch immer im Krankenhaus.«
»Wie alt war er?«
»Acht. Inzwischen ist er neun. Will nicht reden. Will nicht essen.
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