Der Klient
Okay?«
»Okay.«
»Wie alt bist du, Mark. Erzähl mir etwas von dir.«
»Ich bin elf. Ich gehe in die fünfte Klasse der Schule an der Willow Road.«
»Weshalb bist du heute morgen nicht in der Schule?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich verstehe. Und wegen dieser langen Geschichte bist du hier?«
»Ja.«
»Willst du mir diese lange Geschichte erzählen?«
»Ich glaube, ja.«
»Clint sagte, du solltest dich um zwölf mit dem FBI treffen. Stimmt das?«
»Ja. Sie wollen mir im Krankenhaus ein paar Fragen stellen.«
Sie griff sich einen der Blöcke, die auf dem Tisch lagen, und schrieb was darauf. »Im Krankenhaus?«
»Das gehört zu der langen Geschichte. Darf ich Sie etwas fragen, Reggie?« Es war ein merkwürdiges Gefühl, diese Dame mit einem Baseballnamen anzureden. Er hatte einmal einen Fernsehfilm über das Leben von Reggie Jackson gesehen und erinnerte sich, wie die Menge einstimmig Reggie! Reggie! gebrüllt hatte.
Und dann gab es auch noch den Reggie-Schokoriegel. »Natürlich.« Sie lächelte viel, und es war offensichtlich, daß sie diese Szene mit einem Jungen, der einen Anwalt brauchte, genoß. Mark wußte, daß das Lächeln verschwinden würde, wenn er es schaffte, seine Geschichte zu erzählen. Sie hatte hübsche Augen, und sie funkelten ihn an.
»Wenn ich Ihnen etwas erzähle, werden Sie es dann jemandem weitersagen?« fragte er.
»Natürlich nicht. Das ist vertraulich und unterliegt der Schweigepflicht.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, daß ich niemandem sagen darf, was du mir erzählst, es sei denn, du sagst mir, daß ich es weitersagen darf.«
»Niemandem?«
»Niemandem. Das ist genau so, als würdest du mit deinem Arzt oder Pastor sprechen. Die Unterhaltungen sind geheim und vertraulich. Verstehst du das?«
»Ich glaube, ja. Unter gar keinen Umständen?«
»Unter gar keinen Umständen darf ich jemandem sagen, was du mir erzählst.«
»Was ist, wenn ich Ihnen etwas erzähle, was sonst niemand weiß?«
»Ich darf es nicht sagen.«
»Etwas, das die Polizei unbedingt wissen möchte?«
»Ich darf es nicht sagen.« Anfangs amüsierten sie seine Fragen, aber seine Hartnäckigkeit gab ihr zu denken.
»Etwas, das Ihnen eine Menge Ärger einbringen könnte?«
»Ich darf es nicht sagen.«
Mark schaute sie eine lange Weile unverwandt an. Er hatte das Gefühl, daß er ihr vertrauen konnte. Ihr Gesicht war freundlich und ihre Augen beruhigend. Sie war entspannt, und man konnte gut mit ihr reden.
»Weitere Fragen?« erkundigte sie sich.
»Ja. Wie sind Sie an den Namen Reggie gekommen?«
»Ich habe meinen Namen vor ein paar Jahren geändert. Ich hieß damals Regina und war mit einem Arzt verheiratet, und dann sind eine Menge schlimmer Dinge passiert, deshalb habe ich meinen Namen in Reggie geändert.«
»Sie sind geschieden?«
»Meine Eltern sind auch geschieden.«
»Das tut mir leid.«
»Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Mein Bruder und ich waren selig, als die Scheidung durchkam. Mein Vater hat eine Menge getrunken und uns geschlagen. Mom hat er auch ge schlagen. Ich und Ricky haben ihn immer gehaßt.«
»Ricky ist dein Bruder?«
»Ja. Er ist der, der im Krankenhaus liegt.«
»Was fehlt ihm?«
»Das gehört zu der langen Geschichte.«
»Wann willst du mir diese lange Geschichte erzählen?« Mark zögerte ein paar Sekunden und dachte über einige Dinge nach. Er war noch nicht ganz bereit, alles zu erzählen. »Wieviel Honorar wollen Sie?«
»Ich weiß es nicht. Was für eine Art von Fall ist es?«
»Welche Art von Fällen übernehmen Sie?«
»Meistens Fälle, bei denen es um mißbrauchte oder vernachlässigte Kinder geht. Einige mit ausgesetzten Kindern. Massenhaft Adoptionen. Ein paar Fälle von ärztlicher Pfuscherei bei Säuglingen. Aber meistens Fälle von Kindesmißbrauch. Manche davon sind ziemlich übel.«
»Gut. Das ist nämlich ein ganz übler Fall. Eine Person ist tot. Eine weitere liegt im Krankenhaus. Die Polizei und das FBI wollen mit mir reden.«
»Mark, ich nehme an, du hast nicht viel Geld, um mich zu engagieren, oder?«
»Nein.«
»Technisch gesehen genügt es, wenn du mir etwas als Vorschuß zahlst, und sobald das geschehen ist, bin ich dein Anwalt, und wir können zur Sache kommen. Hast du einen Dollar?«
»Wie wär’s, wenn du mir den als Vorschuß geben würdest?« Mark zog einen Ein-Dollar-Schein aus seiner Tasche und gab ihn ihr. »Das ist alles, was ich habe.«
Reggie wollte den Dollar des Jungen nicht, aber sie nahm ihn,
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